Sturmauge
Augenblick wie der auf der Tempelebene von Thotel? , fragte er sich. Er stand auf und sah sich im Raum um, beachtete Kiallas misstrauischen Blick aber nicht weiter. Gesh, das größte der geflügelten Weißaugen, befand sich zum ersten Mal nicht in seiner Nähe, seit er die Bibliothek betreten hatte. Vermutlich war er gerade damit beschäftigt, die Verteidigung zu überwachen, und überließ es dem älteren, aber ebenso überheblichen Kiallas, als Anstandsdame zu dienen. Umso besser. Kiallas war eindeutig der Dümmere von beiden.
»Kiallas«, setzte er an. »Habt Ihr Euch jemals Gedanken über das Rätsel des Herzens gemacht?«
Das Weißauge sah Styrax eine Weile an, dann schüttelte es den Kopf. »Ich verschwende meine Zeit nicht mit kindischen Spielen.«
»Natürlich nicht«, stimmte Styrax zu. »Die Pflichten eines
Wächters der Bibliothek wiegen dafür viel zu schwer. Ich wüsste es jedoch zu schätzen, wenn Ihr es mir zuliebe tätet.« Er wies auf die Säule in der Mitte des Raumes und sah, dass der Litse die Hand fester um seinen Wurfspeer schloss.
Mit übertriebener Vorsicht griff Styrax in eine Tasche an seinem Gürtel und zog drei Stilettos hervor, die er vor sich ausbreitete. Er beobachtete die Züge des Litse. Kiallas erkannte offenbar, dass es dumm wäre, jetzt die Frage aufzubringen, welche Waffen in der Bibliothek erlaubt waren und welche nicht.
»Bitte, nehmt eines«, sagte er und hielt sie ihm mit dem Griff voran hin. Vorsichtig nahm Kiallas einen Dolch und Styrax ging zu der schwarzen Steinsäule hinüber. Die goldene Halbkugel an der Spitze verstrahlte ein warmes, gelbes Licht, das ein Zeugnis von der Reinheit des verwendeten Goldes ablegte. Styrax kniete sich hin und wies mit einem gepanzerten Finger auf eine Rune.
»Seht Ihr diese Rune? Würdet Ihr bitte die Spitze des Messers auf den kreuzförmigen Teil legen?«
»Was soll das alles?«
»Ich werde natürlich das Rätsel lösen, aber man muss drei Dolche gleichzeitig nutzen, und ich habe nur zwei Hände. Es wäre etwas würdelos, wenn ich einen Stiefel ausziehen müsste«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln und wies auf seinen Panzerschuh.
Kiallas fand das offensichtlich nicht besonders unterhaltsam, doch es reichte trotzdem aus. Er hielt den Wurfspeer noch immer bereit, kniete sich aber hin und legte die schmale Klinge auf den entsprechenden Punkt. Dabei versuchte er den Rücken so aufrecht wie möglich zu halten. Styrax ging auf die andere Seite und stellte sich auf. Er suchte die richtigen Runen, legte dann die Messerspitzen auf die jeweilige Mitte, eine auf die senkrechte, die andere auf die waagerechte Linie.
»Bei drei drückt das Messer bitte in den Stein«, sagte er.
Kiallas blickte ihn um das Denkmal herum an. »Hinein?«
»Sie werden leicht hineingleiten. Eins, zwei, drei. «
Gleichzeitig drückten die Männer zu und spürten, wie unter ihrem Drängen etwas nachgab. Die Messer mit der schmalen Klinge glitten in den Fels, bis ihre Griffe auf die Säule trafen.
»Jetzt drehen wir die Säule mithilfe der Griffe nach rechts«, sagte er. Kiallas, der nun allmählich neugierig wurde, tat wie ihm geheißen – und die Säule drehte sich erst wie geölt, kam dann aber mit einem Ruck zum Stehen.
Styrax lächelte. »Wäre Oberst Bernstein nicht gewesen, ich sähe jetzt dumm aus.« Er zog eines der Messer halb heraus und drehte die Säule einen Achtelkreis zurück. »Das kommt wohl davon, wenn man ungeduldig wird«, fügte er hinzu, während sich die Säule ein wenig anhob, als der Fuß auf etwas glitt, das wie eine schräge Führung wirkte.
Kiallas antwortete nicht. Er starrte noch immer verwundert die Säule an, die sich während seines ganzen Lebens nicht einen Fingerbreit bewegt hatte. Styrax nahm ihm sein Schweigen nicht übel, das wäre unter den gegebenen Umständen auch kleinlich gewesen. Stattdessen lächelte er freundlich, während er eine der Klingen aus der Säule zog und in Kiallas Hals rammte.
Die rasiermesserscharfe Klinge glitt selbstverständlich noch leichter durch Fleisch und Knochen, als sie schon in den Stein gefahren war. Kiallas sah noch immer überrascht aus, als sich seine Finger von dem Messerknauf lösten und sein toter Leib stürzte. Verdreht fiel er zu Boden und klemmte dabei einen seiner eleganten Flügel unter dem eigenen Körper ein.
»Na, interessiert dich das schon, Liebes?«, fragte Styrax die ältere Gelehrte leise. Sie hielt den Kopf auch weiterhin über das Pergament gebeugt und
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