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Sturmbote

Sturmbote

Titel: Sturmbote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Lloyd
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der Straße war von blutigen Innereien und den abgeschnittenen Stücken verstopft, die man nicht mal mehr den wilden Tiermenschen zumuten wollte. Die Gegend bestand aus winzigen Häusern, die Erinnerungen in Mayel wachriefen. Hier war er geboren worden, hier hatte er erste Erfahrungen gesammelt. Trotz des Schmutzes konnte man das Gemeinschaftsgefühl spüren. Er bemerkte böse Blicke, die ihm folgten. Man erkannte ihn nicht und ärgerte sich über den Fremden, der von dem Mann durch das Schlachterviertel geführt wurde, dessen Wort in den Schatten Gesetz war.
    »Willst du an deinem alten Haus vorbeigehen? Ich habe es an einen Gerber und seine Familie vermietet – acht kreischende Blagen, genau wie du und deine Schwester damals.«
    Mayel schüttelte den Kopf. Er traute sich nicht zu sprechen, weil seine Stimme die Gefühle verraten hätte, die ihn heimsuchten. Das Metzgerviertel erschien ihm kleiner, gewöhnlicher und
grausamer als früher, als er sich hier heimisch gefühlt hatte. Schuld nagte an ihm. Er hatte seinen Vater zurückgelassen, seine Schwester fest an sich gepresst, damit sie in der Menge, die aus der Stadt floh, nicht verlorenging. Seine Mutter hatte auf dem einzigen Bett in der Hütte gelegen, die sie ihr Zuhause genannt hatten und war an der weißen Pest gestorben. Mit ihrem letzten Atemzug hatte sie darauf gedrängt, dass sie fliehen sollten. Er sah noch immer den blutigen Schaum vor sich, der aus ihrem Mund lief, während sie flehte, sie mögen sich retten.
    Aus irgendeinem Grund hatte ihr Vater geglaubt, dass ein Leben im Dienste Vellerns sie retten würde, und vielleicht stimmte das auch. Andererseits hatte Mayel im Kloster erfahren, dass die weiße Pest bei weitem nicht so ansteckend war, wie das einfache Volk glaubte. Ob es nun die Wahrheit war oder nicht – sie hatten sich zur Insel der Vögel aufgemacht. Nach einer Woche der Reise auf schmutzigen Straßen war seine Schwester gestolpert und hatte nicht mehr die Kraft besessen, wieder aufzustehen. Bei der Erinnerung daran krampfte sich sein Magen zu einem Knoten zusammen. Damals hatte er nicht genug Stärke besessen, um seinen Vater zu hassen. Aber das hatte er später nachgeholt.
    »Ich verstehe.« Shandeks Stimme klang nun freundlicher. Er kannte den Beginn der ganzen Geschichte und erkannte den Schmerz in Mayels Gesicht. »Du hast mir nie erzählt, was aus deinem Vater wurde.«
    »Er starb«, antwortete Mayel ausdruckslos. »Nach einigen Monaten erkannte er, dass ein Kloster, in dem kein Wein hergestellt wurde, nicht der richtige Ort für ihn war. Er versuchte sich in der Nacht mit einem kleinen Boot aus dem Staub zu machen. Die Hündinnen holten ihn sich.«
    »Die Hündinnen?«
    »Die Felsen rund um die Insel. Die Mönche sagten immer, dass nur, wer sein Lebtag auf dem See fischte, in der Lage dazu
sei, durch sie hindurchzusteuern. Man ließ die Männer des Dorfes sogar erst im Alter von dreißig Jahren allein segeln. Jeder andere zerschellt an den Hündinnen.«
    »Aha.« Shandek wurde still. Mitgefühl wurde hier nicht oft gesehen. Was könnte er auch sagen? Mitleid war Frauensache und er wollte sich nicht aufdrängen. Stattdessen ließ er den Blick über die vertrauten Formen seines Zuhauses wandern. Nach dreiunddreißig Jahren auf diesen Straßen erkannte er die kleinste Veränderung, wie zum Beispiel eine bessere Bezahlung, die das für Reparaturen nötige Geld brachte, oder: dass ein Mann oder eine Frau heute mehr trank als arbeitete. Shandek achtete auf diese Leute. Es nützte ihm nichts, wenn alles nur Leid und Armut war. Er pflegte zu sagen: Sorge dafür, dass die Schafe schön fett sind, bevor du sie scherst.
    Das versunkene Theater stand auf einem Platz am östlichen Ende des Metzgerviertels, der sich unvermittelt vor ihnen öffnete. Der viel genutzte Lange Weg stellte die Grenze des Viertels dar. Hier blinzelten die Leute nach den engen Gassen des Metzgerviertels in die Sonne. Shandek glitt zwischen den Wagen und den Menschenmassen hindurch, die sich hier bewegten, und führte seinen Vetter zu dem Theater. Niedrige Buden und Karren umgaben das Theater und bildeten so unwissentlich die Barrikade aus Schreinen nach, die im Norden die Sechs Tempel umgab. Zwei Weiden verbargen die Südseite des Theaters weitgehend, aber dennoch erkannte Mayel, dass dort gebaut wurde.
    »Sie setzen ein weiteres Geschoss auf?«
    Das versunkene Theater war nach oben offen und auf drei Seiten von einer hohen Natursteinwand umgeben. Am Ende der Bühne

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