Sturmbote
undeutliche Gestalt im Hintergrund, die in verschwommenen Schatten Beute jagte, und der Henker lehnte auf einem Richtblock in der Ferne, das Beil auf der Schulter. Doch seltsamerweise war es die Königin des Verfalls, die der Künstler mit den meisten Details ausgestattet hatte. Mayel konnte ihr grausames Starren spüren, ihr blassgrauer Blick drang in ihn ein. Ihre Lippen, so schmal wie Klingen, waren leicht geöffnet, als wolle sie seinen Namen aussprechen.
Er spürte ihre kalte Berührung auf der Haut. Seine Mutter war nicht der einzige Mensch gewesen, den er an einer Krankheit hatte sterben sehen. Die Königin des Verfalls nahm ihren Opfern alles, ihr Wesen und ihr Leben, das ihr Herr verlangte. Obwohl sie eine Göttin war, hasste Mayel sie für alles, was sie verkörperte.
Die Ebene zu Füßen der Schnitter war vage gehalten. Verwinkelte Formen deuteten einen Teppich aus erschlagenen Männern und Tieren an. Durch die fehlenden Details wurde der Schrecken jedoch eher verstärkt. Um die Ebene erhoben sich auf allen Seiten hohe, kantige, sandfarbene Felsen. Mayel sah genauer hin und erkannte auf den Felsen eine leichte Struktur, beinahe wie die von Holz. Er erschauderte, als er an die Piniensärge dachte, in denen die reichen Leute ihre Toten begruben.
»Ihr Götter, Mann«, sagte Shandek. »Ihr seid sehr begabt. Das ist besser als alles, was ich bisher gesehen habe.«
»Danke, Herr. Es ist …« Die Stimme des Malers verlor sich, als er von Shandek zu seinem Bild hinübersah. Die dunkle Haut des kleinen Mannes verriet seine Herkunft aus dem Westen: er trug wenig mehr als Lumpen. Sein Gesicht jedoch war sauber und sein Haar sorgfältig geschnitten. Sein Ausdruck verriet Verwunderung, als könnte er nicht glauben, dass er so etwas hervorzubringen vermochte. »Es ist seit langem das Beste, was ich geschaffen habe.«
»Ich wusste nicht, dass du dich mit Kunst beschäftigst«, sagte Mayel zu seinem Vetter, war aber unfähig, den Blick von dem Gemälde zu lösen.
»Im Laufe der Jahre habe ich einiges zu Gesicht bekommen.« Shandek grinste.
»Wann? Du bist kein Sammler.«
»Nein, aber ich war an vielen Orten, die Sammlern gehörten. Ich spreche Euch ein Kompliment aus, Freund. Könnt Ihr uns sagen, wo wir den Mann finden, der hier das Sagen hat?«
Der Maler verzog das Gesicht und wies mit dem Pinsel ins Innere. »Der Spielmann sitzt sicher in einer der Logen, im Schatten. Geht nur hinein, dann bemerken sie Euch bald genug.«
»Sie?«, fragte Shandek, aber der Maler hatte sich schon wieder seiner Arbeit zugewandt. Mit einem Schulterzucken durchschritt Shandek das Tor und blickte auf den schummerigen, vollgestopften Raum, in dem die Münzsammler die Kupferstücke des hereinströmenden Publikums zählen würden. Im Moment war er aber leer, nicht einmal ein Stuhl oder ein Tisch standen darin.
Ein Gang führte zu beiden Seiten ab, zu außenliegenden Lagerräumen, die nicht tiefer als zwei Schritt waren, und zu den innenliegenden Logen der Reichen. Vor ihnen führte eine kurze Treppe in das eigentliche Theater.
Shandek erklomm diese und drehte sich zu Mayel um, bedeutete ihm mitzukommen. Der Jüngere zögerte, noch immer
vom Gemälde auf der Tür verunsichert. Der Stil hatte ihn an religiöse Malereien erinnert, an die uralten und heiligen Bilder, auf die man auf der Insel der Vögel so stolz gewesen war.
Hinter sich konnte er die Anwesenheit Brohms spüren. Er war ihnen gefolgt. Er würde nicht hineingehen, bis Mayel nicht gegangen war.
»Warum sollte ich mitkommen?«
»Warum?« Shandek blies in einer wegwerfenden Geste die Wangen auf. »Es gibt keinen rechten Grund, Vetter. Ich wollte mit dir sprechen, bevor ich herkam, ich dachte, du wärest vielleicht interessiert. Und außerdem bist du gebildeter als ich. Diese Künstler sagen vielleicht etwas Schlaues, und dann wüsste ich nicht, ob ich zustimmen oder sie abstechen soll.«
Mayel seufzte und erklomm die Stufen. Etwas ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Ich will nicht hier sein, aber wovor fürchte ich mich? Dohle wird nicht hier sein, und wovor sonst müsste ich mich fürchten?
Wie zur Antwort sprang hinter Shandek eine knochenweiße Gestalt hervor und packte ihn bei den Schultern. Shandek schrie auf und versuchte sich umzudrehen, aber der Angreifer hielt ihn fest und drehte ihm die Arme auf den Rücken. Mayel sah einen weißen, haarlosen Kopf und eine Reihe grausamer Zähne über Shandeks Schulter. Sein Vetter wand sich wie wild und Brohm schob Mayle
Weitere Kostenlose Bücher