Sturmflut mit Schokoladenengel
einen Moment blieb mein Blick wieder an seinem Profil hängen: Kantig, klassisch irgendwie, die Nase geradezu edel, und ein schmaler Mund, wie zum Lächeln gemacht.
Und zum Küssen , raunte eine innere Stimme in mir. So etwas hörte ich nicht gern, schon gar nicht von meiner inneren Stimme. Seit meiner letzten Beziehung hatte ich das Thema Männer und Sex abgehakt. Und zwar hundertprozentig. Glaubte ich.
Ich tat, als gäbe es nichts Wichtigeres als die Namen fremder Leute auf einer Teilnehmerliste. Die vorbeifliegenden Autos, Straßeneinmündungen und Kreuzungen konnte ich einigermaßen ignorieren, nicht aber das Geschaukel, Gehupe und ständige Quietschen der Reifen.
Ich versuchte mich auf die Musik zu konzentrieren: Ziemlich laut dröhnten Streicher und Bläser jetzt aus den Boxen, und reichlich pathetisch. Trotzdem nicht schlecht, und jetzt schienen mir die röhrenden Klänge doch zum Fahrstil zu passen.
Mein Fan mied die verstopften Hauptverkehrsrouten, fegte durch Schleichwege und Seitenstraßen, in denen ich nie zuvor gewesen war. Manchmal spürte ich seine Blicke, und wenn ich aufsah, begegnete ich dem Blick seiner tiefschwarzen Augen im Rückspiegel.
Nichts Ungewöhnliches für mich: Ich bin keine Frau, die man leicht übersieht. Leider. Gott sei Dank. Ach, egal.
Hat er nicht wundervolle Augen? , schwärmte meine innere Stimme. Lass mich bloß in Ruhe , antwortete ich ihr.
Als wir den Rhein überquerten, fühlte ich mich auf einmal vollkommen entspannt. Die Musik wahrscheinlich. Oder lag es an ihm? Mühelos konnte ich mir die fremden Namen einprägen. Sechs Minuten, bevor mein Zug abfuhr, stoppte das Taxi am Breslauer Platz. Viel früher kam ich sonst auch nicht hier an.
„Danke. Sie rasen wohl schon ihr halbes Leben lang durch Köln?“ Ich kramte Geld aus meiner Brieftasche.
„Ich bin erst seit gestern wieder in der Stadt.“
„Glaub ich nicht.“ Ich gab ihm einen Schein. „Stimmt so.“ Ich schätzte ihn Anfang dreißig.
„Bin hier groß geworden, meine Mutter ist Kölnerin.“
„Ach...?“ Ich wurde neugierig. Schade, die Zeit drängte.
Er holte mein Gepäck aus dem Kofferraum, und dann ging es im Laufschritt zum Bahnhofsgebäude. Im Eingang blickte ich flüchtig zurück: Er stand noch immer hinter dem offenen Kofferraum und sah mir nach.
*
Im Tagesgeschäft verblasste die Erinnerung an die morgendliche Taxifahrt schnell, wäre ja auch noch schöner gewesen. In der Nacht aber holte sie mich ein – im Traum saß ich auf dem Beifahrersitz eines Taxis und raste durch Rom. Neben mir: mein Fan; und um meine Schulter: sein Arm.
Am Morgen wusste ich nur noch, dass er mich am Schluss des Traums fragte, ob er mich küssen dürfe.
Der Traum gefiel mir – bis auf die Tatsache, dass ich mich nicht an meine Antwort erinnern konnte; geschweige denn an einen Kuss.
An diesem Morgen ging es nach Bochum. Ich war nicht ganz so spät dran, wie am Tag zuvor. Unten am Straßenrand wartete das Taxi. Und wer steht vor dem offenen Kofferraum und strahlt mir entgegen? Mein schwarzäugiger Fan, richtig.
Meine innere Stimme wollte wissen, ob das Zufall sein konnte, und ich erklärte ihr, dass mich das nicht interessiere.
„Heute müssen Sie nicht ganz so schnell machen.“ Eigentlich wollte ich sein Lächeln nicht erwidern, ertappte mich aber dabei, wie ich es dennoch tat.
Was war denn jetzt los?
Schnell verkroch ich mich auf die Rückbank. Diesmal schallten orientalisch-liturgische Klänge aus den Boxen auf der hinteren Ablage. Er stellte den CD-Player leiser und wollte wissen, ob ich in einer der benachbarten Großstädte arbeitete. Und ich tat etwas, was ich noch nie getan hatte: Von der Haustür meines Stadthauses bis zum Südeingang des Hauptbahnhofs plauderte ich mit meinem schwarzäugigen Taxifahrer.
So erfuhr ich, dass er ein paar Jahre in London und zuletzt in Teheran gelebt hatte, Elektroingenieur war, und in der Taxifirma seines Onkels das Geld für die Gründung eines kleinen Unternehmens verdiente. Er plante Notebooks, TV-Geräte und Stereoanlagen zu reparieren beziehungsweise in einem angegliederten Secondhandshop zu verkaufen. Ich hatte schon von prickelnderen Start-ups gehört, aber warum nicht.
Am Bahnhof hievte er meinen Trolley aus dem Kofferraum und reichte mir die Hand. Eine ungewöhnliche Geste für einen Taxifahrer; fand ich wenigstens. Trotzdem ergriff ich sie. Es durchrieselte mich heiß und kalt, während er meine Hand festhielt und mich anschaute. Auf einmal wurde mir
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