Sturmherz
langsam verreckte, lag ganz gewiss nicht an seiner fehlenden Seehundhaut. Er starb schlicht und einfach, weil er nicht mehr leben wollte. Wozu auch? Um den Rest seines Lebens gefoltert zu werden?
Höchstwahrscheinlich würde Ruth ihn nur noch tot verschachern können.
Jeden Morgen erwartete er, den Selkie leblos vorzufinden. Nein, vielmehr hoffte er es. So hätte das Martyrium ein Ende.
Bei Gott, er war ein elender Feigling. Es läge in seiner Macht, ihn zu befreien, warum wagte er es nicht? Was war sein elendes Leben denn noch wert, wenn er seine Zukunft auf etwas so Widerwärtigem aufbaute?
Aaron ging in die Küche und goss sich den zehnten Kaffee an diesem Tag ein. Es war wieder Abend geworden. Er vermied es, einen Blick in sein Schlafzimmer zu werfen. Der Anblick des halbtoten Jungen, gefesselt an sein Bett, brachte ihn um den Verstand.
Tu es , beschwor er sich jede Minute. Tu es, tu es, tu es.
Aber er tat es nicht.
Stattdessen begann er, Ruth zu hassen.
Abgöttisch und leidenschaftlich.
Die Lumbalpunktion vor zwei Tagen schien dem Selkie den Rest gegeben zu haben. Seitdem war er, wie es auch bei Menschen nach einem solchen Eingriff geschah, von rasenden Kopfschmerzen gepeinigt, die ihn überfielen, sobald er versuchte, sich aufzurichten. Glücklicherweise, denn anders konnte man es unter den gegebenen Umständen nicht formulieren, fand der Selkie seit heute Morgen ohnehin nicht mehr die Kraft, sich nennenswert zu bewegen. Still und stumm lag er da, mal mit geschlossenen Augen, mal mit leerem Blick, der sich irgendwo in nicht existenten Welten verlor.
Kaum ließ Aaron sich wieder in den Fernsehsessel sinken, die dampfende Tasse mit beiden Händen umklammernd, hörte er Ruth vom Schlafzimmer her schreien:
„Ich hab’s. Die erste Präsentation um 8.00 Uhr gehört uns. Komm her, Aaron. Sieh es dir an, damit du es glaubst.“
Eine Beleidigung auf den Lippen erhob er sich und schlurfte zu ihr. Ihr vom Computerbildschirm beschienenes Gesicht sah gruselig aus, übertroffen wurde es nur noch vom Anblick des Gefangenen, der kaum mehr war als ein Schatten seiner selbst. Er schien zu verblassen wie ein Geist.
„Wir werden die Welt umkrempeln“, frohlockte Ruth. „Ich fasse es nicht. In ein paar Tagen stehen wir vor zweihundert der bedeutendsten Genetiker und Molekularbiologen der Welt. Wir beide auf der Jahreskonferenz für Genetik und Molekularbiologie in London. Lass das auf deiner Zunge zergehen, Partner.“
Aaron streifte den Text, der vor ihm flimmerte, mit einem müden Blick.
Ihm lagen Worte auf der Zunge. Zum Beispiel: Ist dir schon mal aufgefallen, dass er dir unter den Händen wegstirbt ? Oder siehst du nur noch deine Testergebnisse? Es drängte ihn, sie auszusprechen, doch seine Stimmbänder versagten ihm den Dienst.
Keinen Atemzug später stürmte Ruth mit enthusiastischen Jauchzern von dannen, wohl um zu telefonieren. Eine glänzende Zukunft, aufgebaut auf Leid und Blut. Wunderbar. Er ließ sich in den Sessel sinken, umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab. Ein weißer, widerlich steriler Tisch aus der Universität. Während er inzwischen wieder seiner regulären Arbeit nachgehen musste, konnte Ruth es sich nicht nur erlauben, spontan ein paar weitere Wochen freizumachen. Nein, es stand ihr anscheinend sogar frei, tonnenweise Material zu entwenden und hierherzuschaffen. Allein das Stereomikroskop und die Zentrifuge waren ein paar tausend Pfund wert. Bewegte sie sich damit am Rande der Legalität oder war gar längst darüber hinausgeschossen?
Aaron fühlte sich wie ihr Gefangener. Ausgelaugt, hilflos, verblasst.
Als er sich zu dem Jungen umwandte, hatte dieser den Kopf zu ihm gewandt und sah ihn an. Aaron schluckte schwer. Er hatte die Hoffnung gehegt, dass der Selkie längst im Reich des Traumes weilte und nicht mehr von dort zurückkehrte, ganz gleich, was Ruth mit ihm anstellte.
Diesen Blick zu sehen war mehr, als er ertragen konnte.
Ehe er wusste, wie ihm geschah, rannte er in die Küche, holte ein Messer und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Vom Wohnzimmer her hörte er Ruth leise reden. Sie würde lange genug mit Selbstbeweihräucherung beschäftigt sein, um es ihm zu ermöglichen, den Selkie loszuschneiden und ans Meer zu schleppen. Zumindest hoffte er das. Vielleicht würde die Freiheit den Jungen wieder zu Kräften kommen lassen. Und selbst wenn nicht, war ein Tod in seiner angestammten Welt weit besser als das Elend, das ihn hier
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