Sturmherz
hin. Ich bin es. Erkennst du mich nicht?
„Mari?“ Mein Name war ein ersticktes Wimmern in seiner Kehle. „Mari, bist du das?“
Ja!, wollte ich schreien. Stattdessen blökte ich ihn hilflos an.
„Himmel!“ Er raufte sich die zu Berge stehenden Haare. „Oh Kleines, wie konnte das passieren? Was hat er nur getan?“
Flehend starrte ich zu ihm hoch.
Gib Louan nicht die Schuld. Er hat mich gerettet. Er hat sich für mich geopfert. Hilf ihm, Dad. Hilf mir.
„Sag doch was“, bettelte er. „Rede mit mir. Komm zurück, Mari.“
Ein handfester Fluch in Form eines Grunzens kam aus meiner Schnauze.
Grundgütiger, ich besaß Barthaare.
Egal. Darüber konnte ich später nachdenken. Ich musste es schaffen, mich mitzuteilen. Nein, ich musste es schaffen, wieder ein Mensch zu werden. Mit inbrünstiger Verzweiflung stellte ich es mir vor.
Die Macht des Geistes … die Kraft meines Willens … bla bla.
Mein ganzer Körper begann zu brennen. Er wurde enger und enger, dehnte sich bis zur Schmerzgrenze, pulsierte und prickelte.
Ja, es gelang!
Gleich musste die Haut aufplatzen.
Ich schloss die Augen und erwartete den Schmerz.
Doch nichts geschah.
Das Engegefühl verebbte, das Pulsieren verschwand.
Ich war nach wie vor ein Tier, während Dad über mir kauerte, mich in den Armen hielt und heulte wie ein Schlosshund.
Verteufelt nochmal, was sollte ich tun?
Mein Seehundgehirn arbeitete fieberhaft und glücklicherweise mit unveränderter Leistungsfähigkeit. Ruth und Aaron arbeiteten in der Universität von Inverness, was bedeutete, dass sie höchstwahrscheinlich auch in Inverness lebten oder zumindest im näheren Umfeld.
Im Geiste rief ich mir eine Karte vor Augen. Es wäre ein Katzensprung gewesen, hätte ich wie ein Mensch im Flugzeug fliegen oder im Auto fahren können. Doch aus eigener Kraft schwimmen? Und was, wenn ich dort war?
Als Seehund war ich machtlos. Wie sollte ich Louan in einer Großstadt finden?
Wenn ich es jetzt nicht schaffte, menschlich zu werden, würde es mir später gelingen?
Jedes Nachdenken war überflüssig. Ich musste es einfach tun. Ob es möglich oder unmöglich war, irrsinnig oder machbar. An Kleidung zu kommen, falls ich es schaffte, wieder Mensch zu werden, war von allen Problemen das Geringste.
Es zerriss mir das Herz, mich aus Dads Armen zu winden, Louans Fell zu schnappen und ins Wasser zu robben. Ob wir uns wiedersehen würden, war ungewiss. Alles war ungewiss. Ich blickte ihn nicht an, verschwand so schnell mich meine Flossen trugen in den Wellen und tauchte ab.
Seine Stimme verfolgte mich bis hinein in die Tiefen der See.
„Mari, ich liebe dich. Pass auf dich auf, mein Schatz.“
~ Dr. Aaron Welsh ~
Asoka verlor seine große Liebe und wurde zerfressen von Hass. Er tötete, mähte ganze Armeen nieder, ließ nichts an sein Herz als gnadenlose Kälte. Ein grausamer König, der das Land in Blut tränkte. Doch als er begriff, dass er einem Irrtum aufgesessen war … als er erkannte, dass seine geliebte Frau noch lebte, und dass all der Tod, den er gesät hatte, umsonst war, sah er seinen Fehler ein und wurde Buddhist. Seine Lehren der Friede und Harmonie keimten dort, wo zuvor Blut in Strömen geflossen war. Seine Sanftheit wischte Schmerz fort. Er lebte glücklich bis ans Ende aller Tage.
Aaron schaltete den Fernseher aus und entließ seinen Frust in einem Stöhnen.
Er konnte nicht mehr.
Verflucht und zugenäht, das Leben war kein Bollywood-Film, in dem das Gute immer siegte und alle in leuchtend bunten Kleidern tanzten.
Ruth hatte sein Haus in ein Frankensteinlabor verwandelt. Überall roch es nach Chemie und Krankenhaus. Computer surrten, Geräte tickten, das Bettgestell knirschte.
Wie ein wahnsinniges Gespenst huschte Ruth durch die Zimmer und Gänge, ungeduldiger und fahriger von Tag zu Tag, wälzte Unterlagen, telefonierte und bohrte und schnitt sich immer tiefer in das Geheimnis in Form eines sterbenden Jungen hinein, der sich mit jedem Atemzug weiter von ihnen entfernte.
Sie hatte von ihm verlangt, nach Skara Brae zu fahren und nach einem möglicherweise vorhandenen Fell zu suchen, doch er hatte sich geweigert.
Selbst dann noch, als sie ihm Liebesschwüre ins Ohr geflüstert und ihren Körper an seinem gerieben hatte.
Ihre Masche funktionierte gut, das musste er sich eingestehen.
Er war noch immer verrückt nach ihr.
Aber Ruths Macht über ihn schwand. Mit jedem Tag sah er klarer, und mit jedem Tag ekelte er sich mehr vor sich selbst.
Dass ihr Gefangener
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