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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Hüfte und den Armen des Selkies. Fingernägel verlängerten sich zu Krallen. Und als der Junge den Kopf zurückwarf und seinen Mund zu einem lautlosen Schrei öffnete, schimmerten Fangzähne im fahlen Licht der Bildschirme.
    „Bei Gott.“ Ruth schnappte nach Luft. „Hol die Kamera. Davon brauchen wir eine Aufnahme.“
    ~ Louan ~
    Unmöglich, es aufzuhalten. Ich konnte nicht. Wollte nicht. Erinnerungen kamen zu mir, fern und blass. Manchmal, wenn ein Selkie ohne sein Fell im Sterben lag und sich so fest an das Leben klammerte, dass keine Macht es ihm nehmen konnte, kämpfte sich das Tier wieder frei. Es sprengte die menschliche Hülle, wühlte sich heraus, übernahm die Kontrolle.
    Vollständig. Das alte Leben auslöschend.
    Ich spürte, wie es hervorbrach. Sengend und zornig. Angst und Schmerz waren ihm gleichgültig. Mit offenen Armen und hungriger Seele wollte ich es empfangen, doch da war das Wissen, dass das Tier den Menschen vollständig vernichten würde. Wenn ich es zuließ, wenn ich mich darin verlor, würde ich Mari vergessen. Für immer.
    Beim Salz der See, ich hatte es für Legenden gehalten. Ein Märchen, das nur wenig mit der Wahrheit gemein hatte. Ein Selkie ohne sein Fell war zum Tode verurteilt, doch jetzt kehrte ich ins Leben zurück.
    Meine Erinnerungen wurden blass wie Meeresschaum. Und sie verschwanden zusehends. Ich konnte sie nicht halten. Zähne verlängerten sich mit mörderischem Druck, Nägel wurden zu Krallen. Fell drückte sich durch meine Haut.
    Es war so verlockend. So befreiend. Ich wollte nichts mehr spüren, nichts mehr denken. Aber wenn ich sie vergaß …
    Unmöglich.
    Keine Schmerzen mehr, keine Erinnerungen mehr.
    Nur der friedvolle Zorn des Tieres. Alles andere war unerträglich.
    Und Mari würde ich ohnehin nie wiedersehen.
    Ein reißender Krampf zuckte durch meinen Körper. Die Krallen des Tieres zerfetzten seinen Käfig, zogen sich wieder zurück, ruhten aus, rüsteten sich für den letzten Befreiungsschlag. Stumm und mit geschlossenen Augen wartete ich darauf.

Kapitel 14
    Als ich frei war
    „Fern an schottischer Felsenküste,
wo das graue Schloss hinausragt über die brandende See,
dort, am hochgewölbten Fenster,
steht eine schöne, kranke Frau,
zartdurchsichtig und marmorblass.
Sie spielt die Harfe und singt.
Der Wind durchwühlt ihre Locken,
und trägt ihr dunkles Lied
weit über das stürmende Meer.“
Heinrich Heine
    ~ Mari ~
    M eine Gefühle verspotteten und narrten mich. Glaubte ich, der Quelle der Gefühle näherzukommen, verhallten sie in der Weite des Ozeans und kehrten erst nach langen Irrwegen in alle Himmelsrichtungen wieder.
    Zerklüftete Küsten zogen im Nebel des Morgens an mir vorüber. Möwen kreisten am bleigrauen Himmel. Ich sah die Schatten von Wolken über saftigen Wiesen. Ich sah bunte Schiffkutter und lärmende Fähren.
    Kam ich Louan näher oder entfernte ich mich von ihm?
    Ich konnte es nicht sagen. Er war bei mir, in jedem Atemzug und in jedem Gedanken, doch seine Nähe gab mir kein Ziel.
    Wenn mich meine geografische Erinnerung nicht trog, musste ich nur der Küste folgen, um Inverness zu erreichen.
    Und dann? Es fühlte sich an, als würde ich mit jedem verstreichenden Tag mehr zum Tier. Der Mensch entglitt mir, um nur noch Instinkte übrig zu lassen. Über mir ballten sich die Möwen zu einem kreischenden Haufen. Mürrisch brodelte das Meer, unter dessen blaugrauem Spiegel ein Fischschwarm seine Runden zog.
    Ehe ich wusste, wie mir geschah, ließ ich Louans Fell los und stürzte mich mitten hinein in den glitzernden Wirbelsturm.
    Blut färbte in Wolken das Wasser. Ich biss und schlang und fraß, schnappte wie von Sinnen um mich und sprang aus dem Wasser, um wie ein Pfeil wieder darin einzutauchen. Sturmvögel schossen auf die Fische herab. Delfine näherten sich.
    Ich verlor mich in einem Rausch, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. Keine Angst erreichte mich. Keine Sorge. Es war ein wildes, brutales Paradies, in das ich mich nur zu gerne flüchtete, doch als von dem Schwarm kaum mehr übrig war als glitzernde Schuppen und ich erschöpft im Wasser trieb, waren die Erinnerungen schärfer denn je.
    Übelkeit füllte meine Eingeweide. Ich musste Louan finden.
    So schnell wie möglich.
    In spiralförmigen Drehungen tauchte ich ab, fand das Fell auf dunklem Schlick liegend und packte es. Gerade strebte ich wieder an die Oberfläche, als ich sie sah. Vier Orcas. Riesig, hungrig und furchteinflößend.
    War das Weibchen, das ihnen voraus

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