Sturmherz
kräftigen Flossen geworden, mein menschlicher Körper zu dem geschmeidigen Leib eines Seehundes, gegossen aus Silber und belebt von der Macht des Meeres. Ich schwamm, Louans Fell mit meinen Zähnen haltend, als wäre es meine ureigene Natur. Hinter meiner Angst um ihn und meiner Sorge um Dad fühlte ich den unwiderstehlichen Drang, Fischen nachzujagen und sie roh zu verschlingen. Alles, was ich wahrnahm, war anders und doch vertraut.
Anscheinend der Ruf der Natur.
Ich konnte und wollte ihm nicht nachgeben. Noch nicht. Erst musste ich Louan finden, und dabei konnte mir nur Dad helfen.
Als ich den Strand erreicht hatte, entpuppte sich mein Körper als wahrer Fluch. Es fühlte sich an, als wäre mein Bauch mit Steinen gefüllt.
Der Abend dämmerte bereits. Die Stunden vergingen wie im Flug, wenn man im Meer war, als gälten dort andere Regeln für Zeit und Raum. Ein leeres, ziehendes Gefühl füllte mich aus, als ich Louans Fell beiseite legte und erschlaffte. Vielleicht Hunger, der überschattet wurde von Angst.
Weit und breit war niemand am Strand zu sehen. Weder der in Menschengestalt gefangene Raer noch sonst jemand.
Verzweifelt begann ich zu pressen.
Ich wand mich im Sand hin und her, fluchte in Gedanken und peitschte die Brandung mit meiner Schwanzflosse.
Ich konzentrierte mich, visualisierte, wie ich als Mensch aus dem Fell schlüpfte – und musste erkennen, dass es nichts, rein gar nichts brachte.
In Seehundgestalt lag ich da, zutiefst frustriert, während Louan irgendwo dort draußen furchtbare Qualen auszustehen hatte oder sogar im Sterben lag.
Mit wurde übel vor Verzweiflung. Ich roch den Duft seines Fells. Es gab mir das Gefühl, als wäre ein Teil von ihm bei mir, und genau dieses Gefühl machte alles noch schlimmer. Es war nur eine Hülle, die neben mir lag. Ein totes Ding ohne Leben.
Raer kam mir in den Sinn. Vermutlich versteckte er sich, gezwungen in die menschliche Gestalt. Oder er starb.
Nein, Selkies konnten eine ganze Weile ohne Fell überstehen. Louan hatte es mir in den letzten Wochen bewiesen. Hinter meinem Hass tat Raer mir leid, obwohl er es nicht verdient hatte. Würde ich um seinetwillen auf mein neues Leben verzichten und ihm seine Haut zurückgeben? Wofür? Damit er erneut versuchen konnte, Louan zu töten und mich zu besitzen?
Es waren Gedanken, die ich weit von mir schob. Nicht jetzt.
Zuerst musste ich es schaffen, wieder Mari zu werden. Mari, die gemeinsam mit ihrem Vater auf die Suche gehen konnte. Wenn Aaron und Ruth mit ihrem Fang an die Öffentlichkeit gingen, war alles aus. Nirgendwo würde es mehr einen Platz für uns geben.
Uns …
Ein unglaublicher Gedanke. Ich gehörte jetzt in seine Welt. Ich war wie er. Ein Grund mehr, ihn schnellstmöglich zu finden.
Schritte näherten sich. Ich fuhr erschrocken hoch, was die ungewohnte Form meines Körpers damit bestrafte, dass ich nach hinten kippte wie ein Kegel.
„Louan!“, brüllte jemand.
Auf dem Rücken liegend, die Flossen hochgereckt, sah ich meinen Vater über mir aufragen. Louan? Natürlich, ich sah aus wie er. Ich war ein silberweißer Seehund. Fast ein tröstender Gedanke, der zerfetzt wurde von dem Wissen, dass er irgendwo dort draußen mutterseelenallein der Neugier skrupelloser Dummköpfe ausgesetzt war.
„Wo ist sie?“ Dad packte mich und drückte mich in den Sand. Sein Blick streifte Louans Fell, dann durchbohrte er wieder mich. „Ich bin umgekommen vor Sorge, verdammt noch mal! Was ist passiert? Ich habe von dem Jungen gehört, den du angeblich halb zerfleischt hast. Sämtliche Fischer sind auf der Jagd nach dir. Warst du es? Was ist das da für ein Fell? Wo ist Mari?“
Ich bin es!, wollte ich rufen. Ich bin es, deine Tochter. Louan ist in Gefahr. Wir müssen ihn retten.
Heraus kam nur ein heiseres Grunzen und Blöken. Beim haarigen Kelpie, ich klang wie ein Seehund.
Verflucht, ich war ein Seehund!
Plötzlich erschien mir all das völlig irrsinnig. Mein Herzschlag hyperventilierte, mir wurde schwindlig.
„Sag es mir!“ Dad brüllte, wie ich ihn nie hatte brüllen hören. „Sag es mir! Sag es! Wo ist meine Tochter? Was ist passiert?“
Meine Augen brannten. Konnten Seehunde weinen? Verzweifelt blickte ich zu ihm auf, in der Hoffnung, dass irgendetwas in meinem Blick ihm sagte, wer ich war.
„Mein Gott“, presste er hervor. „Gütiger Gott. Alles, nur das nicht.“
Wusste er es? Ich konnte es nur hoffen.
Der Griff seiner Hände wurde sanfter, er begann zu zittern.
Dad! Sieh genau
Weitere Kostenlose Bücher