Sturmherz
allein. Viele fanden wegen den Seehundmenschen schon einen schlimmen Tod. Wenn sie ihr gestohlenes Fell wiederfinden, stürzen dich und deine ganze Familie ins Verderben. Sie verfluchen dich, sie machen dich wahnsinnig. Viele hundert Jahre ist es her, dass es den Letzten erwischte. Ein Mann hauste nach dem Ableben seines Eheweibes allein auf Skara Brae, und er fand eines Nachts eine Frau am Strand. Sie war wunderschön, sodass es kam, wie es kommen musste. Der Unglückselige verliebte sich unsterblich. Eine Zeitlang war er glücklich mit seiner Meeresbraut, aber dann wachte er in einer hellen Vollmondnacht auf, weil er die schönste Stimme hörte, die du dir vorstellen kannst. Sie war schöner als Ambrosia. Schöner als der Gesang der Engel, den du hörst, wenn du stirbst. Es war wie ein Wiegenlied, das die Mutter ihrem Kind vorsingt, doch könnte keine Mutter dieser Welt schöner singen, als diese Frau es vermochte. Rettungslos verzaubert ging der Mann hinunter zum Meer, wo er sein Eheweib auf einem Felsen sitzen sah. Aber sie war kein Mensch mehr. Sie war etwas so Grausames geworden, dass es dem Mann den Verstand raubte. Unfähig, ihrer Stimme zu widerstehen, folgte er seiner Frau in das Meer.“ MacMuffin gab eine Kunstpause zu besten. Als er fortfuhr, glitt ein kalter Hauch über meine Arme. „Die Wellen packten ihn und warfen ihn an die Felsen. Sie zermalmten ihn unter den gnadenlosen Augen des Wesens, das ihm vorgegaukelt hatte, ihn zu lieben. In Wahrheit war sie gekommen, um ihn zu zerstören. Sie wollte seine Seele. Nichts anderes. Das Letzte, was er hörte, war ihr Lachen. Ein Lachen wie das Rollen der See, die dein Schiff zerschmettert.“
Ich schluckte schwer, als der Fischer in Schweigen verfiel. „Schöne Geschichte. Gefällt mir. In zwei Stunden holst du uns wieder ab, okay?“
MacMuffin schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Er drehte am Steuerrad, ließ den Kutter nach Osten schwenken und brummte unverständliche Dinge in seinen Bart.
Die Insel rückte stetig näher. Ein heller, halbmondförmiger Strand schälte sich aus dem Dunst der Ferne, dann sah ich den Felsen, der wie eine scharfe Klaue geformt war. Mit ihrem sichelförmigen Nagel aus Fels schien sie den Himmel zu zerkratzen. Schneegesprenkeltes Gras zog sich hinter den Dünen über zwei sanfte Hügel. Lichtspiele zogen darüber hinweg, gejagt von Wolkenschatten. Um die Insel herum ragten Felsen aus dem Wasser auf, betupft von weißen und grauen Seevögeln.
„Nicht gut“, schnarrte MacMuffin wieder und wieder, während das Eiland schnell näher kam. „Die Insel mag keine Besucher. Ich sag es euch. Keiner fischt in ihrer Nähe, weil die Netze in diesem Wasser immer leer bleiben.“
Der Fischer stoppte ein gutes Stück vor dem Sandstrand. Als ich gemeinsam mit Dad das Rettungsboot zu Wasser ließ, trat er noch einmal mit sorgenvoller Miene an mich heran.
„Sieh dir alles an“, grummelte er in mein Ohr. „Aber hüte dich vor Stimmen, die zu schön sind, um wahr zu sein.“
„Äh, was?“
„Für dein Schicksal bist ganz allein du selbst verantwortlich, kleine Sprotte.“ MacMuffin hob warnend eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. „Wenn du die Haut eines Selkies findest und sie vor ihm versteckst, zwingst du ihn damit an Land. Er ist einem ergeben, weil er stirbt, wenn er seiner Haut nicht nahe sein kann. Es ist sein Fluch. Und zwar ein ganz fürchterlicher, weil es stolze Wesen sind. Ihre Rache ist furchtbar, wenn sie ihr Fell wiederfinden. Und über Sirenen muss ich dir nichts erzählen. Hüte dich vor Stimmen, die zu schön sind, um wahr zu sein. Und wenn du ein Seehundfell findest, lass die Finger davon. Sonst hast du die längste Zeit gelebt.“
Ich antwortete mit einem pflichtschuldigen Nicken und ließ das Seil durch meine Hände gleiten. Mit leisem Platschen landete das Boot im Wasser. Ich nahm meinen Rucksack, kletterte hinein und streckte mich unternehmungslustig. Dad folgte mir, verlor um ein Haar das Gleichgewicht und plumpste so unsanft auf den Sitz, dass ein Schwall kaltes Wasser über den Bootsrand schwappte.
„Verflixt noch eins.“ Kopfschüttelnd begutachtete er seine nassgespritzten Hosenbeine, schnappte sich die beiden Ruder und hakte sie ein. „Auf Ideen kommst du. Nicht zu fassen. Und ich mache auch noch mit.“
„Du bist neugierig. Genauso wie ich.“ Mir entging nicht das Funkeln in seinen Augen, das den mürrischen Widerwillen Lügen strafte. Abenteuer wie dieses lenkten von Sorgen ab, und mein
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