Sturmherz
eine Schar Krebse, die sich daran gemacht hatte, kleine Fleischstücke aus dem Leib des Wals zu schneiden. Der Rücken des Tieres war vollkommen zerfetzt, sein Kopf fast abgetrennt. Eindeutig das Werk einer Schiffsschraube.
Robin schaltete den MP3-Player aus, zog seinen Fotoapparat aus der Jeanstasche und stellte ihn auf Videoaufnahme.
Die Maden und Krebse wimmelten nun in dem kleinen Vorschaufenster und waren dadurch weniger real und ekelhaft. Sie fraßen am Fleisch, zersetzten den Körper und purzelten und krabbelten eifrig durcheinander. Während Robin filmte, ohne zu wissen, warum er das überhaupt tat, wurde ihm klar, dass er ebenso wie der Wal einsam an diesem Strand verrecken konnte, sollte ihm etwas passieren. Bei dieser Erkenntnis wollte er plötzlich nur noch eines: Nach Hause in sein Zimmer. Er wollte sich mit einer Decke vor die Heizung setzen, Kakao trinken und Musik hören. Scheiß auf seine Eltern. Scheiß auf ihre ewig schlechte Laune und ihre Meckereien. Zuhause war er wenigstens nicht allein.
Ja, es war besser, jetzt gleich zurückzufahren. Zumal die Wolken so aussahen, als würde es bald anfangen, wie aus Eimern zu schütten.
Eine Bewegung im Augenwinkel riss Robin aus seinen Überlegungen. Instinktiv ließ er sich in die Hocke sinken. Halb verborgen hinter dem Felsen, sah er aufs flache Wasser hinaus. Zwischen zwei Felsansammlungen, wo ein Stück freier Kieselstrand lag, tauchte ein großer Seehund aus den Wellen auf. Er zog sich mühsam vorwärts, krallte seine Flossen in die Steine und sackte seufzend zur Seite, als er den größten Teil seines Körpers aus dem Wasser gehievt hatte.
Ohne den Blick von dem Tier zu nehmen, hob Robin seine Kamera und zoomte den Seehund näher heran. Seltsam, so eine helle Fellfarbe hatte er bei den heimischen Seehunden noch nie gesehen. Der Pelz war fast weiß, mit einem metallischen, silbernen Schimmer.
Robin wollte gerade den Fotoapparat ausschalten und das Tier einfach so beobachten, als es ihm den Bauch zudrehte. Er riss die Augen auf.
Eine klaffende Wunde zog sich blutend und hässlich von den Vorderflossen bis zur Schwanzflosse, als hätte jemand den Seehund der Länge nach aufgeschlitzt. Und dann ... fiel etwas Helles aus der Wunde heraus. Eine menschliche Hand.
Robins Finger begannen zu zittern, verwackelten das Bild. Aus der Wunde des Seehundes ragte der blutige Arm eines Menschen. Wie war das möglich? Er musste sich irren. Das konnte unmöglich sein. Doch während er zusah und sein Entsetzen wuchs, begann der Arm zu zucken und sich zu bewegen. Er griff nach den Rändern der Wunde, um sie noch weiter auseinanderzureißen. Ein zweiter Arm folgte, zusammen rissen sie den Leib der Robbe förmlich auseinander, zogen Fleisch und Haut beiseite, bis ein Mensch auf den Kieseln lag. Ein lebendiger, von Blut und Schleim bedeckter Mensch.
„Scheiße!“ Robin verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Halb liegend, halb kauernd filmte er weiter, hielt einfach drauf. „Scheiße, scheiße, scheiße.“
Das Ding stand auf, streckte sich und blieb eine Weile reglos stehen, während es auf das Meer hinausschaute. Er musste weg hier, nur weg! Wenn dieses Etwas ihn entdeckte, war alles aus. Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander, der Apparat glitt aus seinen schweißnassen Händen und landete scheppernd auf den Kieseln. Scheiße! Hatte das Ding etwas gehört? Der Wind fegte lautstark um die Felsen, vielleicht hatte sein Heulen das Geräusch verschluckt. Robin wagte nicht zu atmen. Der Seehundmensch sah sich um, blickte sogar genau zu ihm herüber, aber in dem Moment, da Robin sich sicher war, entdeckt worden zu sein, ging das Ding seelenruhig zum Wasser und watete in die flache Brandung hinein. Als die Wellen seine Hüften umspielten, begann es mit langsamen Bewegungen, sich das Blut vom Körper zu waschen.
Robin fuhr herum und rannte. Er rannte, so schnell er konnte, immer mit dem Gefühl im Nacken, jeden Augenblick von hinten gepackt zu werden. Da vorne war das Boot! Gleich hatte er es geschafft. Er stolperte durch den Sand der Dünen, stürzte zweimal, rappelte sich wieder auf und rannte weiter. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass er nicht verfolgt wurde. Vielleicht würde er es schaffen. Er musste es einfach schaffen. Er würde nicht sterben. Nicht auf dieser beschissenen Insel.
Endlich hatte er das Boot erreicht. Robin warf alles Gepäck hinein, löste das Seil und schob es ins Wasser. Erst, als der Motor knatternd zum Leben
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