Sturmherz
Art.“
Wir verfielen in Schweigen. Langsam kämmte ich weiter und verknüpfte in meinem neuen Weltbild Fantasie mit Wirklichkeit, bis beides untrennbar verschmolzen war. Es fiel mir leicht, vielleicht ein bisschen zu leicht. Womöglich lag es daran, dass ich mit Legenden aufgewachsen war. Mit den Märchen einer Fischerfrau, mit Steinkreisen und alten Ruinen, in denen bleiche Geister hausten. Langsam trocknete Louans Haar. Die Locken wurden weich und geschmeidig. Ich liebte die silbernen Strähnen darin. Sie waren wie Mondlichtstreifen auf tiefem Schwarz und schillerten metallisch, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel darauffiel. Louan hatte meine Nähe gesucht, doch ich war kein Ersatz für seine Familie.
Höchstens ein flüchtiger Trost, so gern ich auch mehr für ihn getan hätte.
Irgendwann war das Wasser kalt und sein Körper warm. Ich gab ihm einen der flauschigen Bademäntel, die Mum damals gehortet hatte, führte ihn in mein Zimmer und deutete auf das Bett. Er sah sich nicht einmal um, fiel stattdessen mit einem müden Seufzen zwischen die Kissen. Und noch ehe ich mich neben ihn legen konnte, war er eingeschlafen.
Sein Vertrauen erschreckte und rührte mich. Er lieferte sich uns aus, begab sich schutzlos in unsere Hände. Weil er wusste, dass wir ihm nichts Böses wollten? Oder weil es ihm egal war, was geschehen konnte? Seine fleischliche Wunde war geheilt, aber ich spürte seine Einsamkeit. Vielleicht lag er deswegen hier und gab jede Vernunft auf.
Um nicht alleine zu sein.
Als ich noch einmal in das Bad zurückging, begegnete ich meinem Vater, der mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen meinen Blick suchte. Ich lächelte ihm zaghaft zu und holte das Fell, das noch auf dem Wannenrand lag, rollte es behutsam zusammen und legte es in meinem Zimmer auf den Hocker neben meinem Bett. So würde Louans Blick sofort darauffallen, wenn er die Augen öffnete.
Bis zum Morgengrauen lag ich neben ihm und bewachte seinen Schlaf, befallen von der Angst, er könnte verschwinden, sobald ich die Augen schloss.
Doch irgendwann, als hinter dem Fenster das Morgenrot leuchtete und in mein Zimmer kroch, glitt ich in dunkle Tiefen hinab. Der Schlaf hüllte mich ein. An meinen Selkie geschmiegt, glitt ich ins Land der Träume hinüber.
Faröer Inseln, Anfang des 19. Jahrhunderts
~ Louan ~
Kein Mensch lebte auf der Insel. Aber ein Steinkreis, der im Sand nahe der Brandung verwitterte, erinnerte an die einstigen Bewohner, deren Seelen vor langer Zeit mit dem Wind gegangen waren. Wann immer wir es schafften, den wachsamen Augen meiner Mutter zu entgehen, flüchteten wir uns hierher. Es gab Felsen, auf denen wir uns sonnen oder hinter denen wir uns versteckten konnten, wenn Fischkutter vorbeifuhren. Es gab weichen Sand, in dem wir uns wälzen, und flüsterndes Gras, dem wir zuhören konnten. Liebend gerne setzte ich mich ins flache Wasser zwischen die Felsen, ließ den Wind über meine Haut streichen und kaute auf einem Strang Seetang herum.
So tat ich es auch heute.
Ciaras Lachen hallte über die kleine Insel. Ich liebte es, ihr zuzusehen. Ihr kleiner, biegsamer Menschenkörper tanzte so anmutig über die Felsen, wie ihr Seehundkörper sich unter Wasser bewegte, ihr goldenes Haar leuchtete im Sonnenschein. Meine Schwester schien schwerelos zu sein. Luftig wie ein Gedanke. Zart wie eine Blumenqualle. Doch ihr Charakter glich dem eines Hais.
Gerade als ich die Augen schloss und vor mich hinzuträumen begann, mit dem Rücken an den Felsen gelehnt, stürzte sich Ciara auf mich. In ihrem zerbrechlich wirkenden Körper ruhte eine ungeheure Kraft, weshalb es ihr gelang, mich der Länge nach ins Wasser zu werfen. Grollend packte ich sie bei den Schultern, drehte sie ihrerseits herum und verpasste ihr einen Stoß in die Seite.
„Sei nicht so grob!“ Ciara zappelte aus Leibeskräften, als ich sie über meine Schulter warf und an den Strand schleppte. Ihr nasses Haar streifte meinen Rücken. „Du tust mir weh.“
„Ach ja?“ Kaum setzte ich sie ab, fing ich mir einen Tritt gegen das Schienbein ein. „Weißt du, wie ich das sehe, du hinterhältige Krabbe?“
„Ja.“ Herausfordernd warf sie den Kopf in den Nacken und wich meinen zupackenden Händen aus. „Du findest, dass ich dir wehtue. Aber das bist du selbst schuld. Du bist langsam, Bruder. Schwach und langsam.“
Jetzt trieb sie es zu bunt. Mein Stolz war nicht weniger ausgeprägt als meine Liebe zu diesem kleinen Ungeheuer. Ciara kreischte, als ich auf sie
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