Sturmherz
zusprang. Flink wie eine Sardine entwischte sie mir, huschte über den Sand und sprang über die Felsen.
„Fang mich, wenn du kannst!“ Sie griff nach ihrem Seehundfell und stürzte sich vom höchsten Stein aus ins Wasser. Fast erwischte ich sie, als ich ihr hinterhersprang. Mit einer Drehung, deren Eleganz wir in endlosen Übungen perfektioniert hatten, verschmolzen wir mit unserem Fell und schossen in Seehundgestalt über die Muschelbänke hinweg ins tiefe Wasser.
Über dem blauen Abgrund umkreiste Ciara mich, lauernd wie ein Hai auf Beutezug. Ich schnappte nach ihr, schnell aber sanft, um ihr nicht weh zu tun. Gelang es mir, sie in die Schwanzflosse zu zwicken, stieß sie ein blubberndes Knurren aus und biss zurück, deutlich weniger behutsam als ich, sodass mein Körper bald von brennenden Zahnabdrücken gezeichnet war. Übermütig jagten wir durch das Wasser. Mit niemandem fühlte ich mich freier als mit ihr. Niemand konnte es mit uns aufnehmen, was das Schwimmen und Tauchen betraf.
Unsere Herde war an diesem warmen Sommertag auf der Sandbank zurückgeblieben, um sich von der Zeit der Paarung zu erholen. Während die Jungen sich die Zeit im flachen Wasser vertrieben, gaben sich die erwachsenen Weibchen und Männchen drei Nächte hintereinander dem Rausch hin. Im Schein des Vollmondes liebten sie sich, bis der Morgen graute, um eng aneinandergeschmiegt in einen tiefen Schlaf zu fallen und erst wieder zu erwachen, wenn erneut die Nacht hereinbrach. In der Zeit des Rausches waren Selkies verwundbar, denn sie ließen jede Vorsicht außer Acht. Die Erschöpfung am Morgen war so tief, dass niemand ihr widerstehen konnte. Und kam die Dunkelheit, samtig und warm, wurde die Müdigkeit von einem solchen Verlangen abgelöst, dass nichts mehr existierte außer der Körper und der Geist des Partners, mit dem man sich in Ekstase vereinte.
Ciara und ich waren noch zu jung, um an diesem Spiel teilzuhaben. Vielleicht würde der Rausch im nächsten Sommer über uns kommen. Vielleicht auch erst im übernächsten. An diesen Abend interessierte uns nur die verlockende Freiheit. Wir hätten in der Nähe der Gruppe bleiben sollen, doch weder Ciara noch ich gaben viel auf die Warnungen der Erwachsenen. Wir waren schneller als die Orcas. Kein Fischer sah uns, wenn wir nicht gesehen werden wollten. Kein Jäger, ob aus dem Meer und vom Land, nahm unsere Spur auf.
Vergnügt tollten wir durch das Meer, jagten Heringe und Schollen, schlugen uns die Bäuche voll und trugen spielerische Kämpfe aus. Die Orcas ließen sich bis zum Abend nicht blicken. Vielleicht, weil sie inzwischen wussten, dass wir unmöglich zu fangen waren.
Als das Licht der Sonne bernsteinfarben auf den Wellen schimmerte, wandten wir uns in westliche Richtung, um die Sandbank unserer Familie aufzusuchen. Erschöpft von unseren wilden Jagden schwamm Ciara sanft und zahm neben mir her. Glück durchströmte mich, so unverfälscht, wie ich es nur nach einem Tag voller Abenteuer und Lebenslust fühlte, an dem ich erschöpft durch das stille Abendmeer glitt und sich alles so leicht anfühlte, als gäbe es weder Vergänglichkeit noch Schmerz.
So dachte ich zuerst nichts Böses, als ferne Stimmen uns erreichten. Menschliche Stimmen. Vielleicht war es ein Krabbenkutter voller betrunkener Seemänner. Oder die Besatzung eines der Boote, die die Hummerkörbe zu den Klippen brachten. Ciara warf mir einen warnenden Blick zu und behielt die Oberfläche im Auge. Doch kein Schatten regte sich. Gerade begannen wir, unseren Argwohn wieder zu vergessen, als ferne Schüsse erklangen. Die Stimmen wurden lauter. Sie brüllten. Dazwischen hörte ich Seehunde in Todesangst schreien. Unsere Sandbank lag so nah, dass jeder Zweifel ausgeräumt wurde.
Der Lärm kam von dort. Vom Ruheplatz meiner Familie.
Mein Herz geriet ins Stolpern. Kälte erfüllte mich von der Schnauze bis zur Schwanzflosse. Die Angst ließ mich schneller schwimmen, ließ mich schwimmen so schnell ich konnte und vernebelte meine Gedanken. Im Wasser lag der Geruch von Blut. Und von Tod.
Die Schüsse donnerten, sterbende Seehunde brüllten vor Schmerz.
Nein! Nein! Nein!
Seite an Seite tauchten wir aus der Brandung auf. Unsere schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Was sich unseren Blicken zeigte, übergossen vom Licht der letzten Sonnenstrahlen, war zu schrecklich, um es zu begreifen.
Ganz in der Nähe schaukelte ein dreimastiges Segelschiff auf den Wellen. Männer mit Spitzhacken und Knüppeln hatten die Sandbank zu
Weitere Kostenlose Bücher