Sturmherz
Dutzenden gestürmt. Männer mit Gewehren, scharfen Haken und Messern. Ich sah bluttriefenden Sand, abgezogene Felle, tote Seehunde, sterbende Seehunde. Wieder und wieder schlugen die Jäger zu. Versuchte ein Tier zu entkommen, wurde es von Gewehrkugeln niedergestreckt. Geschwächt vom Paarungsspiel und dem tiefen Schlaf, vermochte es kein Selkie, sich zu verwandeln. Helfer schleppten die abgezogenen Felle zu den Ruderbooten, die im flachen Wasser festgepflockt lagen. Die Leichname der Toten blieben unberührt liegen. Zwei Männer stürzten sich auf meinen Vater, ein dritter hob die Hacke mit dem spitzen Stachel. In seiner Tiergestalt war er ein wilder, starker Kämpfer, doch auch er starb nach zwei Schlägen in einer Lache aus strömendem Blut. Neben ihm lag meine tote Mutter. Ihr Fell wurde von zwei Jägern abgezogen, die fast noch Kinder waren. Jede ihrer ruckhaften Bewegungen löste ungeheure Qual in mir aus.
Meine Familie war tot. Meine Herde gab es nicht mehr.
Die Dämmerung senkte sich über ein Bild, das ich nicht wahrhaben wollte. Alles roch nach Blut. Das Meer hüllte sich in den Gestank des Todes, die Sandbank war übersät von gehäuteten Körpern. Als Kugeln dicht neben uns ins Wasser zischten, tauchten wir unter und schwammen um unser Leben. Wir waren allein. Die letzten Überlebenden unseres Volkes. Ohne Heimat, ohne Familie.
Ein Gedanke, zu schrecklich, um ihn zu begreifen.
Ich fuhr hoch und fand mich in einem Kasten wieder, bis zum Hals eingepackt in etwas Weiches, Schwarzes. Wände drückten sich um mich zusammen, Gerüche strömten auf mich ein. Blut, Angst, Menschen, der Rauch von Gewehren. Panik schnürte mir den Atem ab, ließ mein Herz rasen, lähmte meinen Körper.
Doch dann erinnerte ich mich. Die Erkenntnis kam langsam, Stück für Stück. Mein Schrecken wurde zu purem Staunen.
Es war das Zimmer des Mädchens.
Mari.
Und ich trug den Morgenmantel, die sie mir gegeben hatte. Fassungslos befühlte ich den flauschigen Stoff, der noch weicher war als meine Seehundhaut, sah mich um und versuchte zu begreifen, was geschehen war.
Das Menschenmädchen hatte mich in ihr Haus gelockt, und ich war ihr gefolgt. Ich hatte mich ihr anvertraut, einfach so, nach all den Jahrzehnten des Alleinseins und des Misstrauens … und dann war ich vor ihren Augen eingeschlafen. Viel zu müde und viel zu benommen, um nachzudenken.
Ungläubig sah ich Mari an. Die rotgoldenen Strähnen ihres Haares ergossen sich über das weiße Kissen, ihr Gesicht verströmte Ruhe und Glück.
Draußen vor der Tür vernahm ich das leise Schlagen eines Herzens. Ihr schlafender Vater, der Wache hielt.
War ich wirklich hier? In diesem seltsamen, wirren Raum voller Farben und sonderbarer Dinge? An Maris Seite, in ihrem Bett? Mein Haar fühlte sich anders an als sonst. Weich und ohne Knoten. Sie hatte es gekämmt, gestern Nacht, als ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder warmes Wasser genossen hatte.
Die Erinnerung an ihre Berührungen tat weh. Sie waren so zart gewesen. So vorsichtig. Es hätte nicht passieren dürfen. Mari war ahnungslos, sie wusste nicht, dass unsere Welten unvereinbar waren. Unser Fluch war es, das Schlechte in den Menschen zum Vorschein zu bringen. Ihren Neid, ihre Gier. Und geschah es doch einmal, dass ein Landbewohner uns aufrichtig liebte, fiel er dem Alter zum Opfer. Oder dem Schmerz darüber, nie ganz zu uns zu gehören. Alles Menschliche war zu vergänglich, um sich darauf einzulassen.
Mach schon! Verschwinde, ehe es zu spät ist.
Mit sachten Bewegungen stand ich auf, zog den Morgenmantel aus und legte ihn über den bunt karierten Sessel, der mitten im Zimmer stand. Je länger ich blieb, umso schwerer würde es werden. Meine Augen brannten, als ich das Fell vom Hocker nahm und hinausschlich. Zu gerne hätte ich Mari noch einmal berührt, ihre Stimme gehört und ihren Geruch in mich aufgesogen. Aber wieder in mein Leben zurückzukehren, war auch so schon schwer genug. Der Vater des Mädchens lag zusammengerollt vor der Tür und schlief auch dann noch weiter, als ich vorsichtig über ihn hinwegstieg.
Leise knirschten die Dielen unter meinen Schritten, Stille summte im Haus. Draußen empfing mich das aufgewühlte Meer. Der Himmel war klar und blau, der Wind kräftig. Die Kälte des Morgens tat gut und klärte meine Gedanken, doch sie konnte nicht verhindern, dass ich mir ausmalte, wie mein Leben hätte sein können, wäre ich ein kurzlebiger Mensch.
Oder wäre Mari ein Selkie wie ich.
Sinnlose
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