Sturmherz
Gedanken. Nutzlose Gedanken. Das eine wie das andere war unmöglich.
Ich rannte hinab zur Brandung, legte das Fell um meine Schultern und sprang in die nächste Welle. Im Wasser drehte ich mich, ließ Mensch und Tier verschmelzen, spürte das Ziehen und Prickeln der Metamorphose und schoss vorwärts, als mein Körper seine menschlichen Formen verlor.
Der Zorn ließ mich schnell schwimmen, wild und frei, als könnte ich allen Träumen und Hoffnungen entfliehen, wenn ich mich nur im Rausch des Meeres verlor. Von fern erklangen die Klicklaute jagender Orcas. Es waren fremde, wandernde Wale. Ihre Jagdlust strömte durch das Wasser und entfachte in mir den ursprünglichsten aller Instinkte.
Den Überlebenstrieb.
Wenn wir aufeinandertrafen, würden diese Orcas nicht spüren, was ich war. Ein verlockender Gedanke. Ich jagte vorwärts, schoss durch den Wald aus Tang und landete mitten in einem Schwarm Heringe. Blut breitete sich im Wasser aus, als ich instinktiv nach den Fischen schnappte. Schuppen rieselten wie Schneeflocken in die Tiefe. Ich verschlang ein Tier nach dem anderen, jagte und biss und riss in Fetzen, tauchte ab und schoss wieder empor, um den wimmelnden Schwarm zu zerteilen wie ein Blitz die Wolken.
Dann sah ich sie kommen. Schwarzweiße Kolosse, gespenstisch still, die aus dem Blau der Tiefe auf mich zuschnellten.
Mit grimmiger Freude ergriff ich die Flucht. Die Wale streiften die Fische mit keinem Blick. Eine schnelle, wendige Beute war ihrem Jagdfieber zuträglicher. In meinem Kopf summte es. Die Euphorie der tödlichen Gefahr sickerte durch meinen Körper und verlieh ihm ein Übermaß an Kraft. Das Wasser schoss nur so an mir vorbei. Felsen, Muschelbänke, auseinander stiebende Fische. Wogender Tang, durch den ich mich hindurchschlängelte. Die Wale blieben mir dicht auf den Flossen. Sie begannen zu pfeifen und zu singen, längst zu erregt, um die Manier guter Jäger beizubehalten und still zu bleiben.
Ich schwamm in nördlicher Richtung, hin zu den Seehundbänken. Die letzte Rettung vor der Weite der offenen See. Einer der Orcas holte auf, schnappte nach meiner Schwanzflosse und biss ins Leere, als ich im letzten Moment eine Drehung vollführte. Hart klackten seine Zähne aufeinander. Ich jagte weiter, drehte mich mal nach links, mal nach rechts. Tauchte steil ab und schoss wieder empor, um mit einem kraftvollen Sprung die Oberfläche zu durchstoßen. Ganz in der Nähe tuckerte ein Fischerboot vorbei. Zwei Männer beobachteten mich mit einem Fernglas, entdeckten hinter mir die Wale und verfielen in aufgeregte Rufe. Ich schwamm dich am Kutter vorbei, streifte seinen blau gestrichenen Rumpf und tauchte wieder ab. Das Singen meiner Verfolger klang wütend. Sie waren wendig und schnell, doch nach und nach gelang es mir, den Abstand zwischen uns zu vergrößern. Da vorne waren sie, die Seehundbänke. Noch einmal nahm ich alle Kraft zusammen, ließ meinen Körper durch das Wasser schnellen wie ein Sturmtaucher und wich zuschnappenden Zähnen aus.
Ein schwarzweißer Schatten war plötzlich über mir. Ich brach nach rechts aus, schwamm direkt vor das Maul eines zweiten Wales und sah, wie es sich weit öffnete, um mich zu verschlingen. Der Tod war verlockend nah. Ich musste es nur zulassen. Eine kurze Qual, dann Frieden. Ciara, Evelyne, meine Familie. Wir alle wären wieder vereint.
Ein kurzer Schmerz brach an meiner Flanke auf. Pfeilschnell drehte ich mich und rutschte seitlich über den Kopf des Orcas. Er warf mir einen verdrießlichen Pfiff hinterher, als ich seinen Kiefern um Haaresbreite entwischte. Mit aller Kraft holte ich Schwung, sprang aus dem Wasser und landete hart auf einem Felsen. Der Aufschlag presste mir die Luft aus den Lungen. Ich ignorierte den Schmerz, schleppte ich mich höher, außer Reichweite der Wale, bis ich auf sonnenwarmem Stein erschlaffte.
Die Erschöpfung ließ mein Blut nur umso heißer kochen. Ein kurzer Blick auf meine schmerzende Seite zeigte mir, dass die Zähne nur die oberste Hautschicht geritzt hatten. Nichts von Bedeutung. Frustriert zogen die Orcas vor der Sandbank ihre Bahnen und schnappten nach den Tieren, die die Gefahr nicht schnell genug wahrgenommen hatten. Sie erwischten einen alten Seehund. Gnadenlos schleuderten sie den Unglückseligen hin und her, bis er das Bewusstsein verlor. Einer der Wale warf das Tier mit einem Schlag seiner Schwanzflosse hoch in den Himmel und sah zu, wie es wieder auf das Wasser klatschte. Ein kleinerer Orca wiederholte das Spiel,
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