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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Kamm suchte, summte ich leise die Melodie mit. Schließlich, als ich ein geeignetes Exemplar gefunden hatte, kehrte ich zu dem Jungen zurück.
    „Deine Stimme ist schön.“ Er hatte die Arme auf dem Wannenrand verschränkt und seinen Kopf darauf abgestützt. Arglos hielt er die Augen geschlossen. Seine Haut dampfte vor Hitze. Wassertropfen perlten über Arme und Rücken. Eine ganze Weile stand ich einfach nur da und sog den surrealen Anblick in mich auf.
    „Ich kann nicht singen“, murmelte ich irgendwann.
    „Doch, kannst du.“
    „Darf ich mich um das da kümmern?“ Als er zu mir aufsah, deutete ich eine Spur zu hastig auf sein verfilztes Haar. „Und ganz nebenbei fragen, wie dein Name ist? Oder hast du keinen?“
    „Louan.“
    Louan . Ich sprach ihn in Gedanken mehrmals aus. Ja, er passte zu ihm. Sein Klang war geschmeidig, exotisch und geheimnisvoll.
    „Und ja“, fügte er hinzu. „Du darfst.“
    Schwindelnd setzte ich mich auf den Wannenrand und sandte ein Stoßgebet zum Himmel, in dem ich darum flehte, alles richtig zu machen. Behutsam teilte eine Strähne seines Haares ab. Vorsichtig begann ich, sie von unten her durchzukämmen. Louan schloss die Augen. Offenbar genoss er meine Berührungen.
    „Wie alt bist du?“, fragte ich.
    „Ich weiß es nicht.“
    „Nicht einmal annähernd?“
    „Vieles hat sich geändert, seit ich das letzte Mal unter Menschen war.“
    Ahnte er, wie sehr mich sein leises Seufzen aus dem Konzept brachte? Hier zu sitzen und behutsam sein Haar zu kämmen, Strähne für Strähne, war das Aufregendste, das ich je erlebt hatte.
    Blieb nur zu hoffen, dass ich nicht hyperventilierte.
    So wie damals, als Ryan das erste Mal unter mein Shirt gefasst hatte.
    Mit jedem verstreichenden Atemzug erschien mir die Tatsache, dass mein Gast ein Märchenwesen war, weniger unwirklich. Er sah echt aus, er fühlte sich echt an. Und ich war Zeit meines Lebens eine Träumerin gewesen, die alles für möglich gehalten hatte.
    „Seit wann benutzt ihr keine Grammophone mehr?“, fragte er mit schlaftrunkener Stimme.
    „Grammophone? Die Dinger gibt es seit Ewigkeiten nicht mehr.“
    „Wir werden älter als Menschen.“
    Mein Herz machte einen aufgeregten Hüpfer. „Weißt du noch, wer an der Macht war, als du bei den Menschen gelebt hast?“
    Er antwortete ohne zu zögern: „Queen Victoria.“
    Mir klappte der Kiefer nach unten. Bitte was?
    Die Locke, die ich gerade fertig durchgekämmt hatte, rutschte aus meinen Fingern.
    „Queen Victoria regierte von 1837 bis 1901.“
    „Wir altern sehr langsam“, antwortete er gleichmütig. „Wird der Mensch zum Tier oder das Tier zum Menschen, erneuert sich der Körper. Es ist wie eine Geburt. Wieder und wieder. Bleiben wir in einer Gestalt, altern wir genauso schnell wie ihr.“
    „Unbegrenzte Zellerneuerung. Das ist ja der Wahnsinn. Anders gesagt, seid ihr unsterblich, solange ihr euch regelmäßig generalüberholt. Ich meine verwandelt.“
    Louans Lippen wurden zu einem harten Strich. „Wir sind nicht unsterblich. Meine Gruppe wurde getötet. Von Pelzjägern. Niemand blieb übrig. Nur ich.“
    Abrupt hielt ich inne. Dann war die Geschichte über die Selkies von Skara Brae also wahr? Man hatte sie alle getötet? Alle bis auf Louan? Gut möglich, dass es die Bewohner dieses Dorfes getan hatten, vor langer Zeit. Meine Vorfahren.
    „Ist es auf der Insel geschehen, auf der du lebst?“
    „Nein“, antwortete er zu meiner Erleichterung. „Viel weiter im Norden.“
    „Es tut mir so leid.“ In meinem Kopf vollführten grausame Bilder einen scheußlichen Reigen. „Wie lange ist es her?“
    „Lange“, antwortete er nur.
    Ich nahm eine weitere Strähne auf. Sanft begann ich zu kämmen. Streichelte und liebkoste sein Haar, versuchte, Trost zu vermitteln. Sein Gesicht erweckte den Eindruck, aus Eis herausgeschliffen worden zu sein. Es war so kalt, so starr. Ich spürte seinen Schmerz wie ein Stachel in meinem eigenen Herzen und wusste nicht, was ich dagegen hätte ausrichten können. Schuldgefühle schnürten mir die Kehle zu. Meinesgleichen hatte ihm das angetan.
    „Vielleicht gibt es irgendwo noch andere“, mutmaßte ich. „Die Welt ist groß. Es könnte doch sein, oder?“
    Louan schüttelte den Kopf und gab ein leises Schnurren von sich, als ich mit den Fingern beider Hände durch sein Haar fuhr. „Das Meer würde mir sagen, wenn es noch Wesen gäbe, die sind wie ich. Ich würde es spüren. Aber da ist nichts. Ich bin der Letzte meiner

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