Sturmherz
du dich überhaupt mit der Dosierung aus? Was, wenn du die Dinger auf ihn abschießt und hinterher kommt raus, dass er nur ein ganz normaler Mensch war? Das bringt uns nicht nur Teufels Küche, das ruiniert unser Leben bis auf die Grundpfeiler.“
Sein Blut kochte, seine Gedanken fuhren Achterbahn. Befürchtungen, Pläne, Triumph, Angst und Euphorie schaukelten sich zu einem Feuerwerk auf. Ganz nebenbei tauchte noch ein ganz anderer, in diesem Zusammenhang trivial anmutender Gedanke in ihm auf.
Er und Ruth allein auf einer geheimen Mission.
Er und Ruth in einem Hotelzimmer, er und Ruth auf der Rückbank des Autos.
Er und Ruth …
„Dieses Video ist echt!“ Sie knallte den Koffer zu und stellte ihn zurück auf den Boden. „Es ist unser Weg zu weltweitem Ruhm. Wir werden auf die Insel fahren und wir werden den Selkie finden.“
„Gut.“ Aaron nickte langsam. „Du willst ihn also ausknocken, knebeln, fesseln und in meinen Wagen verfrachten?“
Ruth packte ihn bei den Schultern. Ihr Blick war der einer Gottesanbeterin. Allmächtiger, am liebsten würde er sie …
„Ist dir eigentlich klar, was wir da gerade gesehen haben?“, blaffte sie ihn an. „Dieser Seehund hat sich in einen Menschen verwandelt. Er ist ein Selkie. Ein Gestaltwandler, den der Rest der Welt für Magie hält. Er ist ein Wesen, das unsere kühnsten Träume wahr werden lässt. Wir müssen ihn finden. Wir müssen, Aaron! Und wir werden die Ersten sein, die ihn untersuchen. Ich lasse ihn mir nicht wegnehmen. Von niemandem. Was glaubst du, was man tun wird, wenn wir unseren Vorgesetzten dieses Video zeigen? Man wird eine ganze Horde an Jägern zu dieser Insel schicken. Man wird den Selkie fangen, in ein Labor verschleppen und vor dem Rest der Welt geheim halten. Unsere Namen werden nirgendwo auftauchen, wir werden als elende, unbedeutende Kreaturen sterben. So sieht es aus. Deshalb werden wir still und leise unsere Koffer packen und die Sache selbst in die Hand nehmen. Erst, wenn wir genügend brauchbare Forschungsergebnisse haben, wenden wir uns an die Öffentlichkeit. In drei Monaten findet die Jahreskonferenz für Genetik und Molekularbiologie in London statt. Wenn wir unsere Ergebnisse dort vorstellen, kann uns niemand mehr an die Karre fahren. Der Ruhm gehört uns. Allein uns.“
Aaron schwindelte. Sein Schädel dröhnte wie zuletzt zu seiner Studentenzeit. Es würde vermutlich Tage dauern, bis er das soeben Erlebte realisiert hatte. Wirklich glauben würde er es sowieso erst, wenn sich der Selkie vor seinen Augen verwandelte und ein Stück dieses Wesens unter seinem Mikroskop lag.
Heilige Scheiße, und er war vor Stolz fast hintenüber gekippt, weil er die Gene einer Fruchtfliege verändert hatte.
Was die Entdeckung eines solchen Wesens für die Krebsforschung bedeutete, war kaum auszudenken.
Falls es überhaupt existierte.
„Wenn wir ihn haben“, überlegte er laut, „dann schaffen wir ihn wohin?“
„In deinen Keller“, gab Ruth trocken zurück.
„Wie bitte? Du willst meinen Keller in Area 51 verwandeln? Vergiss es.“
„Wo sollen wir es sonst tun? Hier fliegen wir sofort auf. Bei mir Zuhause ist es genauso unmöglich. Ich bin verheiratet mit einem grenzenlos neugierigen Vollpfosten. Du lebst allein in einem Haus mit großem Keller. Wir richten ihn mit allem Nötigen ein, sobald der Selkie uns gehört.“
Irre Wissenschaftler, die in irgendwelchen Kellern Unschuldige sezieren …
„Das gefällt mir nicht.“ Aaron schüttelte den Kopf. Wieder und wieder. „Das gefällt mir ganz und gar nicht. Du kennst meinen Keller nicht. Er ist das pure Chaos. Unmöglich, da irgendwas … verdammt. Das gefällt mir überhaupt nicht.“
„Komm mir jetzt nicht Gewissensbissen“, zischte Ruth. „Wir stehen vor der Entdeckung eines Phänomens. Der Selkie ist unser Schlüssel zu allem, was wir uns je erträumt haben.“
Plötzlich schmiegte sie sich an ihn wie ein Kätzchen. Während ihre Hände über seine Brust wanderten, zerschmolz ihre harte Miene zu einem Antlitz sinnlicher Verführung. Auf gewisse Weise war Ruth ebenfalls ein Gestaltwandler. Von Eisklotz zu Sirene innerhalb einer Sekunde.
„Du bist der einzige Mensch, dem ich vertraue“, schnurrte sie mit zuckersüßem Timbre. „Bitte Aaron, ich kann das nicht allein schaffen. Du bist der Mann, den ich an meiner Seite haben will. Wir beide verändern die Welt. Was sagst du?“
Er seufzte. Ihm war sonnenklar, dass Ruth schamlos ihre Wirkung auf ihn einsetzte, und ihm
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