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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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sich wie eine Glocke über die Wirklichkeit legte, denn all das löste jene Stimmung in mir aus, nach der ich mich sehnte. Es war ein Tag, an dem Wirklichkeit und Märchen eine Symbiose eingingen.
    Mein Magen knurrte, als wollte er mich daran erinnern, dass die schnöde Realität keineswegs blasser geworden war. Ich nahm einen der Butterkekse heraus, die Dad gestern Abend gebacken hatte. Ein einzelner Keks, der den Begriff Kalorienbombe neu definierte, deckte den Energiebedarf eines ganzen Tages.
    Gedankenverloren kaute ich auf dem krümeligen Block herum. Das Zeug war fantastisch. Vielleicht sollte Dad eine Bäckerei gleich neben der Gärtnerei eröffnen, anstatt seine Köstlichkeiten auf einem Beistelltisch anzubieten, der nur dafür sorgte, dass Leute ihn leer räumten und anschließend wieder hinausgingen, ohne etwas zu kaufen.
    Dads Kekse waren ideal für Survival-Trips. Mit ihrer Hilfe überlebte man problemlos jede Odyssee. Ich sah den Werbespruch schon vor mir: Der Keks für echte Helden . Bringt dich durch die Arktis und auf die Spitze des Mount Everests.
    Leises Klackern riss mich aus meiner Gedankenwelt. Waren das nicht Kiesel, die sich unter Schritten bewegten? Ich fuhr herum, eine Spur zu hastig, sodass mein Rucksack vom Felsen purzelte. Kekse, ein schwarzes Kapuzenshirt, zwei Flaschen Mineralwasser mit Kirschgeschmack und eine Tüte Schinkenchips lagen im Sand verstreut.
    Atemlos lauschte ich. Zu hören war nur das Gluckern in den Prielen und die Schreie der Seevögel. Keine fünf Meter entfernt war der Stein, auf dem ich damals sein Fell gefunden hatte. Und hier, genau vor mir, war Louan ins Wasser geflüchtet, als MacMuffin seine Warnschüsse abgegeben hatte.
    Mir schien, als sei er ganz nah. Als wäre er ein unsichtbarer, aber spürbarer Geist, der genau vor mir stand.
    „Louan?“ Meine Stimme störte einen seit Urzeiten bestehenden Frieden. Sie klang falsch. Fremdartig und hart. „Bist du hier?“
    Stille. Was auch sonst.
    Resigniert ließ ich die Schultern hängen. Ganz andere Gedanken eroberten meinen Kopf und rumorten übellaunig in meinem Magen. Keine Woche verging, in der ich nicht hierherkam. Wie musste das auf ihn wirken, wenn er mich beobachtete? Ich wollte ihn zu nichts drängen, ich war weder eine Stalkerin noch ein hormongeplagter Backfisch, der sich Hals über Kopf blamierte. Ich liebte Skara Brae aus tiefstem Herzen. Diese Insel gab mir Frieden, doch sie war nicht meine, sondern Louans Heimat. Ich hatte kein recht, wieder und wieder hier einzudringen.
    Heute zum letzten Mal, schwor ich mir. Und dann nie wieder. Ich musste loslassen, die Selkies zurück in die Märchenwelt verbannen und mein Leben weiterleben.
    Ich rutschte vom Felsen, stopfte die herausgefallenen Utensilien wieder in meinen Rucksack und wandte mich um. Wie aus dem Nichts stand Louan plötzlich hinter mir.
    Großer Gott!
    Ich stolperte gegen ihn, wurde aufgefangen und an eine glatte, kühle Brust gedrückt. Meine Finger umschlossen seine Oberarme. Spürten die sich anspannenden Muskeln und Sehnen. Ich sog tief die Luft ein. Schnupperte einmal, zweimal, dreimal. Salzige Nässe bedeckte seine Haut und betörte meine Nase mit herbem Meeresduft.
    „Geh nicht“, sagte er. „Bitte.“
    Die Erwiderung blieb mir in der Kehle stecken. Ich wich vor ihm zurück, schlang meine Arme um den Oberkörper und biss mir auf die Zunge. Dort, wo wir uns berührt hatten, standen meine Nerven in Flammen. Auf meinen Händen brannten das Salz und die Feuchtigkeit seines Körpers.
    „Hat es dir die Sprache verschlagen?“ Der Schalk blitzte in seinen Augen, als er mich mit schief gelegtem Kopf musterte. „Ich beiße schon nicht. Nicht in diesem Körper jedenfalls.“
    „Wo kommst du so plötzlich her?“
    „Aus dem Nichts.“
    Angesichts seines wölfischen Grinsens schlug mir das Herz bis zum Hals. Wenn die Geschichten wahr waren, wenn Selkies die Menschen nur umgarnten, um ihnen ihre Seele zu stehlen, wenn sie Heimtücke mit einer verführerischen Stimme und einem schönen Gesicht tarnten, war ich Louan hier und jetzt völlig ausgeliefert. MacMuffin würde frühestens in neun Stunden zurückkehren. Ich hatte nur das winzige Ruderboot und keinen Handyempfang. Mir wurde flau im Magen. Da stand er vor mir, das Seehundfell um die Hüften gebunden, ein Funkeln in den kohlschwarzen Augen und so wild und wundervoll, dass ich mich fühlte wie eine der Heldinnen in den Geschichten, die ein unsichtbares Tor durchschritten und plötzlich eine

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