Sturmherz
war klar, dass er nur zu gerne darauf hereinfiel. Aber verdammt, sie hatte recht mit ihrer Prognose. Sie hatte verdammt noch mal recht, und ihm schwirrte gehörig der Kopf. Wenn die Jagd auf den Selkie tatsächlich erfolgreich verlief, würde die Welt der Wissenschaft vor ihnen auf die Knie fallen. Das wäre das Wunder, auf das er ein Leben lang hingearbeitet hatte. Selbst seine Entzugserscheinungen nach zwei Jahren Keuschheit rückten darüber in den Hintergrund.
„Was ist mit dem Jungen, der dir das Video zugespielt hat?“
Ruth schnaufte. „Er wollte natürlich entlohnt werden. Raffgieriges Balg.“
„Und du hast was getan?“
„Mich mit ihm getroffen, seine Kamera eingesackt, ihm fünfzig Pfund überreicht und anschließend dermaßen einen vom Pferd erzählt, dass er sich vor Angst fast in die Hosen geschissen hat. Glaub mir, der hält die Klappe.“
„Ich nehme an, er rechnet im Falle des Weitererzählens damit, von einer Geheimorganisation der Regierung entführt und durchgefoltert zu werden? Inklusive Gehirnwäsche?“
Ruth grinste. „So ungefähr. Abgesehen davon wird der Kleine ab morgen in ein Internat verfrachtet. Sein Vater hatte nach dem Ausflug endgültig die Nase voll.“
„Also gut“, befand er. „Tun wir es.“
Ruth zeigte ein Lächeln, das eisige Schauer seine Wirbelsäule herabrieseln ließ. Mein Gott, sie war eine menschliche Venusfliegenfalle, und er mimte die Fliege, die darin zappelte. Noch einmal klickte sie auf den Play-Knopf. Noch einmal verfolgten sie etwas, das nach allen Regeln der Biologie unmöglich war. Der Seehund. Aufplatzendes Fell. Strömendes Blut. Menschliche Hände, die den Pelz über blasse Haut schoben. Dieses Wesen war fast noch ein Junge. Unvorstellbar, ihn einfach in einen Keller zu sperren und auseinanderzunehmen. Aber damit würde er leben müssen.
„Hallo, mein Schöner.“ Andächtig strich Ruth mit den Fingern über das Gesicht des bewegungslos dastehenden Selkies. „Du weißt es noch nicht, aber das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
~ Mari ~
Der Sommer kam, ohne dass ich ihn wiedersah. Am Tag nach Louans Verschwinden war MacMuffin mit einem prächtigen Fang zurückgekehrt. Die Glückssträhne hatte zehn Tage gewährt, um anschließend dem üblichen Pech zu weichen. Sechs Monate lang blieb es bei mickrigen Fängen oder völlig leeren Netzen, doch seit zwei Wochen schien er die Fische wieder magisch anzuziehen. Mit vollem Schiffsbauch kehrte MacMuffin Tag für Tag in den Hafen ein, als hätte ihm ein Selkie die Schwärme ins Netz gesungen.
Gemeinsam mit Dad fuhr ich viele Male nach Skara Brae. Jeden Sonntag nach einem späten Frühstück. Es wurde ein Ritual für uns, eine willkommene Auszeit, die mich ebenso glücklich wie traurig machte, denn nirgendwo fand ich eine Spur meines Selkies. Er war fort. Vielleicht für immer?
Nachts saß ich eingewickelt in eine Decke am Rand der Klippen und träumte mich auf das Meer hinaus. Ich dachte an Louan, versuchte mir vorzustellen, wie er irgendwo dort draußen frei und glücklich lebte, unberührt von allen Sorgen. Weit, weit weg. Wo keine Gewehrkugel und kein Fischernetz ihn erreichten.
Ob ich ihn je wiedersehen würde?
Meine letzten Sommerferien brachen an. Im nächsten Jahr würde ich die rechte Hand meines Vaters werden. Ein wunderbarer Gedanke, der mich zuversichtlich stimmte und meine Enttäuschung über Louans Verschwinden milderte. Es war besser für ihn, fernab der Inseln zu leben. Es gab zu viele Geschichten über weiße Seehunde, die die Netze der Fischer zerbissen. Und es gab zu viele Jäger, die danach trachteten, seltene Beute zu machen. Seine Welt war da draußen, meine war hier.
Die Gärtnerei lief besser, das Geschick meines Vaters für seltene und exotische Schätze sprach sich langsam auf dem Festland herum. Immer häufiger kehrten seltsame Menschen bei uns ein. Verschrobene, verträumte Männer und Frauen auf der Suche nach geheimnisvollen Orchideen, zauberischen Zutaten und duftenden Dschungelblüten. Seit Dad eine Webseite samt Online-Shop eingerichtet hatte, lief es sogar noch besser. Auch wenn das bisher nur bedeutete, dass sich die roten Zahlen im dreistelligen und nicht im fünfstelligen Bereich bewegten. Es tat ihm im Herzen weh, seine liebevoll umsorgten Schätze in Kartons oder Kisten zu stopfen, aber die Erhaltung unseres Lebenstraumes stand an erster Stelle. Vielleicht, und das hofften wir beide aus tiefstem Herzen, stieg das Interesse noch weiter und
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