Sturmherz
spielen schien, nach draußen zu stürmen, auf Nimmerwiedersehen im Meer unterzutauchen und uns zu vergessen.
„Geh nicht“, flüsterte ich. „Bleib bei uns.“
Louan fuhr so abrupt hoch, das ich zusammenfuhr. Zielstrebig hielt er auf den mit roten Beeren geschmückten Pfefferbaum zu, in dessen Zweigen die Gouldamadinen saßen und zwitscherten. Er blickte zu den Vögeln auf, als sei ihr Anblick seine Zuflucht.
„Was ist denn, wenn ich bleibe?“, fuhr er mich an. „Dann ist mir einen Augenblick lang warm. Ich sehe euch altern und sterben, und danach ist die Kälte noch viel schlimmer. Du hast die Geschichte vorhin gehört. So endet die Liebe zwischen einem Selkie und einem Menschen. Einer Seite bringt es immer den frühen Tod. Als wir noch viele waren, kam es oft vor, dass ein Selkiemann sich in eine Menschenfrau verliebte, oder dass eine Selkiefrau ihre große Liebe an Land fand. Jede dieser Geschichten endete in Tod und Zerstörung. Es ist ein Naturgesetz. So, wie auf Ebbe die Flut folgt.“
„Quatsch!“ Trotzige Wut brach in mir auf. „Glück ist immer flüchtig. Es kommt und geht, wie es ihm gefällt. Auch wenn sich zwei Menschen finden, kann Liebe das Schlimmste bedeuten oder das Schönste. Sicherheit gibt es nie.“
„Mari.“ Louan schloss gequält die Augen. „Ich will nicht, dass du so endest wie dieses Selkiemädchen. Glaube mir, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als bei dir zu sein, aber keine der Liebesgeschichten, von denen ich je gehört habe, endete gut. Wir zerstören euch. Wir rauben eure Seelen. Wir machen euch krank, ob wir es wollen oder nicht.“
„Unsinn“, erwiderte ich hitzig. „Ich habe mich nie besser gefühlt als jetzt.“
„Am Anfang ist das immer so.“
„Und ich bin davon überzeugt, dass alles einen Sinn hat. An dem Abend, an dem ich dich fand, wollte ich nicht mehr an das Meer. Aber ich hatte plötzlich das Verlangen nach einem Strandspaziergang. Das Schicksal wollte, dass wir uns fanden. Es hat etwas mit uns vor.“
„Genau das befürchte ich.“ Seine Hand legte sich auf meine Wange. Der Kloß in meiner Kehle verwandelte sich in einen Ball aus scharfen Stacheln.
„Und wir sind wie Robben, die in ständiger Angst davor leben, ins Wasser zu gehen, weil dort ihr schlimmster Feind lauert. Aber letztlich müssen wir doch hinein. Um zu überleben.“
Ich empfand nichts als Empörung. Eine Wut gegenüber der gesamten Welt, die die Dinge so sein ließ, wie sie waren, und die alles gleichgültig hinnahm. Das Universum interessiert sich nicht für unsere Ängste und Hoffnungen. Damit mussten wir leben. Aber heute Abend würde es auch mir gleichgültig sein. Mochte geschehen, was immer geschehen wollte. Diese Stunden gehörten allein uns beiden.
Niemand konnte sie uns nehmen.
„Komm.“ Ich nahm Louans Hand und zog ihn zur Treppe hinüber.
Im Vorbeigehen griff er nach seinem Fell, das zusammengerollt auf dem Sideboard lag.
Mit jeder Stufe, die wir emporstiegen, wurde ich ungeduldiger. Zugleich wuchs mein Mut ins Unermessliche. Nein, Mut war es nicht. Eher Verzweiflung. Ein wilder Trotz gegenüber allen Fesseln, die uns auferlegt wurden oder die wir uns selbst auflegten.
In meinem Zimmer nahm ich Louan das Fell ab, legte es auf meinen Sessel und schmiegte mich an ihn, ehe mein Verstand Einwände erheben konnte. Seine Arme schlossen sich um mich, gaben mir allen warnenden Mythen zum Trotz das Gefühl, am sichersten Ort der Welt zu sein.
Sein Blick schweifte über die dunklen, staubbedeckten Kolonialstil-Möbel, den cremefarbenen Teppich, die Caspar-David-Friedrich-Kunstdrucke und blieb schließlich an meinem Heim-Planetarium hängen. Es ähnelte einer fußballgroßen, schwarzen Kugel mit einem Loch darin.
„Was ist das?“, fragte er. „Was macht es?“
„Sterne.“
Er runzelte die Stirn.
Mein Blick hing an seinen Lippen, jede ihrer hauchfeinen Regungen versetzte mich in Entzückung.
Ich wollte ihn.
Ich brauchte ihn.
Wie ferngesteuert hob ich meine Hand und strich ihm eine Locke zurück, die in seine Stirn gefallen waren. Louan schauderte unter meiner Berührung, sonst bewegte er sich nicht. Er stand einfach nur da und sah mich an.
„Wie macht es Sterne?“, hakte er nach.
Ich musste lachen. „Projektion. Im Inneren der Kugel befindet sich eine Lampe und eine transparente Platte, auf der die Sterne aufgedruckt sind. Das Licht wirft die Sterne als Projektion an die Decke. Wie ein Spiegelbild im Wasser.“
„Projektion.“ Er nickte gewichtig.
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