Sturmherz
sie in ein verängstigtes Kind verwandelt. Wie ein geprügelter Hund war sie vor ihm geflohen. Ruth war fassungslos. Nein, mehr noch. Sie war bis auf die Grundfesten erschüttert.
„Fahren wir jetzt zurück?“, fragte Aaron vorsichtig.
„Zurück?“
„Nach Inverness. Darf ich dich daran erinnern, dass du zu der Meinung gelangt bist, unser Vorhaben sei sinnlos?“
Ruth entfloh ein Lachen. Selbst in ihrer Wahrnehmung klang es schrill und krank. Der Schatten der Angst lag noch immer über ihr. Wer sich einmal winzig klein gefühlt hatte, würde vielleicht nie wieder zu alter Größe zurückfinden. Ein erschreckender Gedanke, den sie weit von sich schob. Stattdessen füllte sie ihn mit Triumph. Der Selkie würde ihr nicht entkommen. Sie wusste es mit unerschütterlicher Sicherheit. Er würde ihr gehören, und wenn sie ihn bis ans Ende der Welt verfolgte.
„Vergiss es“, spie sie aus. „Jetzt fängt der Spaß erst an.“
„Erst willst du verschwinden, jetzt willst du bleiben. Ich verstehe dich nicht.“
Sie lächelte. Eine wilde Gier erwachte in ihrem Inneren, genährt von Zorn, Kampfgeist und dem Wissen, dass sie stärker war als irgendwelche zauberischen Mächte. Diese Erniedrigung würde sie ihm heimzahlen. Niemand führte sie an der Nase herum.
„Komm, Aaron. Unser Wunderwesen scheint der Meinung zu sein, mit mir spielen zu können. Es wird Zeit, dass er seine Meisterin findet.“
~ Louan ~
Beide starrten mich an. Mari schockiert, Thomas verständnislos. Ich spürte noch immer den kalten Hauch auf meiner Haut, den Ruth Chapmans Blick auf mir hinterlassen hatte. Ich hatte ihr Überlegenheit vorgespielt, doch es war nur eine Maske gewesen. In Wahrheit war ihr besessener, eiskalter Blick wie ein Messer durch mich hindurchgefahren und hatte mir klargemacht, dass ich ihr alles zutrauen musste. Sie war ein Raubtier. Gewissenlos und wild entschlossen, Beute zu schlagen.
„Wer war das?“, fragte Thomas in die bohrende Stille hinein. „Was war hier gerade los? Klärt mich mal wer auf?“
Während Mari mit leiser Stimme von ihrer Begegnung im Hafencafé berichtete, rührte ich in meinem Milchkaffee herum und wich jedem Blickkontakt aus. In meinem Kopf kreiste ein einziger, schrecklicher Gedanke.
Ich muss gehen. Weg von hier. Weg von Mari . Für immer.
„Nicht zu fassen“, kommentierte Thomas den abgeschlossenen Bericht. „MacMuffin hat sich allen Ernstes als ihr Führer verdingt?“
„Ja“, bestätigte Mari mit Tränen in den Augen. „Aber er hat keine Ahnung. Ihm geht es nur um das Geld. Was sollen wir denn jetzt tun?“
„Wir können Louan nicht beschützen.“ Thomas Stimme klang wütend und hart. Eine Maske für seine Ängste. „Nicht, wenn sie wissen, was er ist. Im Gegenteil. Sie werden uns dazu benutzen, um an ihn heranzukommen. Sie werden dich benutzen, weil du …“, er räusperte sich zweimal, „… weil du in diesen Jungen vernarrt bist.“
„Was willst du mir damit sagen?“, schluchzte Mari. „Vielleicht wissen sie gar nichts. Sie sind wieder gegangen, oder? Sie haben aufgegeben.“
„Und warum haben sie aufgegeben?“, fragte Thomas treffsicher. „Hast du daran schon mal gedacht?“
Ich war froh, dass Olivia verschwunden war. Ihre Verzweiflung hatte wie ein bitterer Geschmack nach Galle auf meiner Zunge gelegen und hätte alles noch schlimmer gemacht. Sie war dem Sehnen erlegen, das wir in Menschen weckten, und würde Zeit ihres Lebens unglücklich bleiben. Ein weiteres Zeichen dafür, dass ich nicht hätte hier sein dürfen. Und doch wollte ich nirgendwo anders sein. Der Kokon aus Maris Nähe, aus Kaffeeduft, Brötchen, Klaviermusik und Blumenaroma war so flüchtig wie kostbar. Doch das Schicksal verbot mir diese Behaglichkeit. Damit musste ich leben. Egal wie weh es tat.
„Was hast du getan?“, fragte Thomas an mich gewandt. „Du hast doch irgendetwas mit den beiden angestellt? Sie sind nicht aus freien Stücken verschwunden. Ich habe es gesehen.“
Jetzt begab ich mich auf dünnes Eis. Das hier war der beste und der schlechteste Moment, um die Wahrheit zu sagen. Andererseits spielte es keine Rolle mehr, was ich sagte, denn meine Zeit unter den Menschen war vorbei.
„Mit ihm habe ich nichts angestellt. Aber mit der Frau.“
„Was meinst du?“
„Ich kann Gefühle beeinflussen. Ich habe ihr gezeigt, dass ich ihr überlegen bin, und dass es aussichtslos ist, mich zu verfolgen.“
Mari legte aufstöhnend eine Hand auf ihre Stirn, Thomas klappte der Kiefer
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