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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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gejagt. Die Sonne schien von einem wasserblauen Himmel, der Frühling betupfte die Wiesen und Klippen mit bunten Sprenkeln. Als der Nachmittag dem Abend wich, gingen wir mit vollen Bäuchen zurück zum Haus, das hinter uns auf dem höchsten Hügel thronte. Später, wenn die Nacht hereinbrach und der Mond aufging, würde uns noch genug Zeit zum Schwimmen bleiben. Munter wie eine Sardine tanzte Ciara neben mir her und plapperte über die Vorzüge der Süßspeisen, die Florence für das Abendessen kochte, und die so vorzüglich als Nachgang zu einem Flundermahl passten. In ihrem flachsblonden Haar glitzerte das Salz, ihre Augen sprühten vor Lebensfreude.
    Die Strömung trug mich zu den Tangwäldern. Ich wickelte mich in ihre Stränge ein, erschlaffte und ließ mich treiben. Sonnenstrahlen stachen wie Pfeile in das tiefblaue Wasser. Hell wie Ciaras Haar. Alles war schwerelos. Meine Erinnerungen flogen. Streiften nicht nur die Vergangenheit, sondern tauchten darin ein. Ein flüchtiger, schöner Traum.
    … ich fühlte mich glücklich und zufrieden, bis meine Schwester die Haustür aufriss und mein Blick auf den großen, runden Tisch fiel, an dem Florence und Jacob saßen. Zusammen mit zwei Gästen. Vor Überraschung blieb mir die übliche Begrüßung im Hals stecken, während Ciara sich ängstlich an meine Seite drückte. Fremde? Hier bei uns? Seit wir in diesem Haus lebten, hatten unsere Menschenfreunde niemals Artgenossen zu sich eingeladen.
    „Kommt rein.“ Jacob winkte uns zu. „Es ist alles in Ordnung.“
    Ciara warf mir einen unsicheren Blick zu. Sollen wir wirklich?, schien sie mich stumm zu fragen, und nach kurzem Zögern antwortete ich mit einem Nicken. Wir traten ein, gingen Hand in Hand zum Tisch und setzten uns. Meine Menschenhaut schien zu schrumpfen. Zu viele Blicke. Zuviel Aufmerksamkeit. Am liebsten hätte ich Ciara gepackt und wäre mit ihr nach draußen gelaufen.
    „War es schön am Strand?“, fragte Florence sanft.
    Ciara und ich nickten synchron, denn unter den starren Blicken der beiden Fremden brachten wir kein Wort heraus. Mir gegenüber saß der fremde Mann in seinem schwarzen Anzug und starrte mich an, als sei ich ein Insekt, das er zertreten wollte. Er war der seltsamste, unheimlichste Mensch, der mir je unter die Augen gekommen war. Fast kam es mir vor, als sei er gar nicht lebendig, sondern aus Holz geschnitzt. Zu seiner Rechten kauerte mit unglücklicher Miene ein wunderschönes Mädchen. Ihr blassblaues, hochgeschlossenes Seidenkleid ließ sie noch dünner, blasser und zarter wirken. Die beiden waren Vater und Tochter, daran bestand kein Zweifel. Sie besaßen dieselben großen Augen und dasselbe haselnussbraune, glatte Haar.
    „Unerhört!“, spie der Mann abfällig aus und bewies mir damit, dass sehr wohl Leben in ihm steckte. „Man könnte meinen, es seien wilde Tiere. Wie kann man so etwas nur durchgehen lassen? Und hör auf zu gaffen, Evelyne. So etwas ziemt sich nicht für eine Dame.“
    Ich starrte das Mädchen an, sie starrte zurück. Ihre Augen glänzten braun und golden wie Bernstein, aber gleichzeitig waren sie so schrecklich leblos. Was war ihr geschehen? Warum sah sie so traurig aus?
    „Evelyne!“, polterte der Mann. „Ich sage es nicht noch einmal: Starre ihn nicht so an!“
    Das Mädchen senkte den Blick. Das war also die Antwort auf meine Frage. Ihr Vater machte sie traurig. Ohne ihn zu kennen, verabscheute ich ihn von diesem Augenblick an.
    „Darf ich vorstellen?“ Jacobs Stimme klang so lieblos, wie ich sie nie zuvor gehört hatte. „Unser Sohn Jules Baltimore und Evelyne, seine Tochter. Es ist das erste Mal seit fünfzehn Jahren, dass er sich zu einem Besuch herablässt.“
    Jetzt wandte er sich dem Mann zu, nahm die Fleischplatte vom Tisch und reichte sie ihm. Die Geste erweckte den Anschein, als stöße er mit einem Schwert zu. „Spann uns nicht länger auf die Folter, Jules. Was führt dich so plötzlich her? Willst du über deine Erbschaft reden?“
    „Nein, Vater.“ Jules Stimme troff vor falscher Freundlichkeit. „Ich wollte euch lediglich eure Enkelin vorstellen, bevor wir noch diesen Herbst das Schiff nach Amerika besteigen.“
    „Ihr wandert aus?“ Jacobs Miene blieb unbewegt, doch ich spürte seinen Schmerz wie eine kalte Strömung, die durch meinen Geist wehte. „Wohin?“
    „Im September geht unser Schiff von Plymouth aus nach Boston. Und ich will nicht, dass ihr meine Tochter nur von Bildern kennt.“ Er wandte sich an Florence und

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