Sturmherz
woanders suchen. Was meinst, du Ruth?“
„Hm?“ Etwas in ihr schien zu zerreißen, als der Selkie seinen Blick von ihr nahm. Dichte, schwarze Wimpern senkten sich über einen bodenlosen Abgrund. In ihrem Gehirn löschte eine salzige Brandung jeden klaren Gedanken wie in den Sand geschriebene Buchstaben aus.
Spurlos.
Was sie vorhatten, war unmöglich. Dieses Wesen war zu stark und zu mächtig. Es zu fangen war ebenso aussichtslos, als wollten sie das Meer in einen Käfig sperren.
„Ja“, murmelte sie. „Du hast recht. Wir sollten aufgeben.“
„Bitte?“ Aaron starrte sie an. „Du meinst zurückfahren? Nach Inverness?“
Ruth murmelte eine bestätigende Floskel und stand auf. Ihren Kaffee ließ sie unberührt. Sie wollte raus! Nur raus! Weg von ihm. In ihrem Nacken brannte der Blick des Selkies. Ohne ihn zu sehen, spürte sie, wie er an ihrer Seele saugte. Frost kroch durch ihre Adern. Ein immer stärker werdender Druck legte sich um ihren Brustkorb. Es war, als würde etwas sie in die Tiefe des Wassers ziehen, tiefer und tiefer, obwohl sie hier mitten in der Küche eines Hauses stand. Es wurde kalt. Unerträglich kalt. Als würde er sie lebendig in Eis einschließen.
„Komm mit.“ Panisch zog sie Aaron hinter sich her. „Wir müssen weg. Komm schon, komm.“
„Warum? Was ist los mit dir?“
„Nichts.“ Ruth füllte keuchend ihre ausgedörrten Lungen. Endlich, als sie nach draußen traten und die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, löste sich das Band um ihren Brustkorb. Ihre Fähigkeit zu denken kehrte zurück. Langsam und eingeschüchtert, schockiert von der Berührung einer Macht, die ihr mit solcher Mühelosigkeit demonstriert hatte, wie winzig sie war.
„Es war eine idiotische Idee.“ Ruth beugte sich vor, stützte die Hände auf den Knien ab und atmete. Sie atmete tief und gierig, als hätte sie sich aus tiefen Wassern emporgekämpft. Nie hatte sie sich so hilflos gefühlt. So klein und nackt. „Er wird niemals uns gehören. Niemals.“
Und zum ersten Mal seit zwanzig Jahren weinte sie.
„Junge, Junge, was ist bloß in dich gefahren.“ Aaron legte seine Arme um sie und brachte sie zum Wagen, der auf dem einzigen Parkplatz des Dorfes stand. Nein, er trug sie vielmehr. Ruth fühlte sich, als könnte sie niemals wieder allein stehen oder gar laufen. Ihr Körper war ebenso gelähmt wie ihr Geist.
Was war hier los?
Sie versuchte zu denken. Nichts geschah. Ihr Kopf war ausgefüllt von zähem, schwarzem Teer. Jeder noch so triviale Gedanke entwischte ihrem Zugriff. Sie hatte furchtbare Angst gehabt. Wovor? Warum fühlte sie sich wie ein geprügeltes Kind, das jeden Halt verloren hatte?
„Alles okay?“ Plötzlich saß sie im Wagen neben Aaron. „Was ist los?“
Ruth starrte ins Leere. Vergingen Sekunden? Minuten? Stunden?
Aarons Stimme drang mal aus weiter Ferne zu ihr, mal aus unmittelbarer Nähe. Sie schloss die Augen. Stromschläge schienen durch ihr Gehirn zu zucken.
Denke! Denke, verdammt. Irgendwas ist passiert.
„Ruth!“ Aaron rüttelte an ihrer Schulter. „Ruth, rede mit mir!“
Ihr Blick verschwamm. Wie eine von Wellen durchgeschüttelte Boje schien ihr Kopf auf den Schultern zu schwanken. Er war bleischwer. Am liebsten hätte sie ihn abgenommen und in den nächsten Mülleimer geworfen.
„Was?“, stammelte sie. „Ich … was ist los? Was ist … passiert?“
„Das frage ich dich.“ Aaron wedelte mit der Hand vor ihrem Kopf herum. Verzweifelt versuchte Ruth, mit ihrem Blick etwas zu fokussieren. Alles war verschwommen und in die Länge gezogen. Die Lähmung der Angst besaß noch immer Macht über ihr Gehirn. Sie wollte sich in einer dunklen Ecke verstecken und heulen.
„Hat dich der Schlag getroffen? Jetzt sag schon was.“
„Was ist passiert?“ Diesmal klang ihre Stimme deutlicher. Langsam gewann die Welt wieder an Konturen. Es war, als kämpfe sie sich aus einem zähen Sumpf frei, Millimeter für Millimeter.
„Keine Ahnung. Du hast diesen Jungen angestarrt wie ein Kaninchen die Schlange. Dann bist du ausgeflippt.“
Ruths Gedanken nahmen ihre Fahrt wieder auf. Dieser Junge? Ja, da war etwas in ihrer Erinnerung. Die Küche, der Whiskyfass-Mann. Das Mädchen, der Selkie.
Großer Gott, der Selkie!
Die Erkenntnis traf sie mit der Wucht eines Magenschwingers. Plötzlich wurde alle Verwirrung und Betäubung beiseite gewischt und überließ einem einzigen Gefühl die Vorherrschaft.
Demütigung.
Er hatte sie gedemütigt wie niemals jemand zuvor. Er hatte
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