Sturmherz
lieb ist. Du wirst erfolgreich sein, Ruth. Ich weiß es. Aber nicht, wenn du dich Hals über Kopf ins Unglück stürzt und uns als hirnverbrannte Idioten dastehen lässt. Wenn die hier mitkriegen, dass wir Seehundmenschen jagen, kannst du dir den Rest der Geschichte ausmalen.“
Sie starrte ihn an. Das Blut rauschte in ihren Ohren wie die Niagara-Fälle. Langsam, ganz langsam, kehrte die Klarheit in ihre Gedanken zurück.
Einatmen und ausatmen. Einatmen und ausatmen.
Ja, das half. Zumindest ansatzweise.
Noch hilfreicher wäre nur ein Schlag in Aarons Gesicht gewesen.
„Die drei wollen uns an der Nase herumführen“, überlegte sie laut. „Das Ganze ist nur ein Possenspiel, weil diese kleine Göre ihm den Kopf verdreht hat. Unser mystischer Freund spielt den Menschen und hofft darauf, dass wir auf seine Masche reinfallen und die Zelte abbrechen. Aber da täuscht er sich. Da täuscht er sich gewaltig. Früher oder später macht er einen Fehler. Und wenn das passiert, werde ich zur Stelle sein.“
Ruth riss sich von ihm los und marschierte zurück zum Klippenrand.
Niemand war mehr zu sehen. Nur ein leerer Strand, das im Sonnenlicht glänzende Meer und ein paar kreischende Möwen.
Ihr war klar, dass Aarons Glaube an den Wahrheitsgehalt des Videos schwand und vielleicht gar nicht mehr vorhanden war. Die Geschichte bezüglich der Fälschung mochte plausibel klingen, doch sie hatte gespürt, was in diesem Jungen schlummerte. Sie hatte dem Tier in die Augen geblickt, und es hatte zurückgestarrt.
Mitten hinein in ihre Seele.
Ja, für eine Weile würde sie versuchen, ihr Ziel mit Geduld und größtmöglicher Diskretion zu erreichen. Und wenn sie damit scheiterte, gab es immer noch das Mädchen. Sie fesselte den Selkie an das Land, sie machte ihn verwundbar. Und bei allem, was ihr unheilig war, diese Schwäche würde sie zu nutzen wissen.
~ Mari ~
„Was willst du?“ Ich sprach es leise aus, die Lippen an seinen Hals geschmiegt. „Willst du gehen oder bleiben? Sag es mir, ich halte dich nicht auf.“
„Mari.“
Eine solche Zärtlichkeit klang in seiner Stimme mit, dass ich vor lauter Zuneigung und Verzweiflung kaum mehr wusste, wo oben und unten war. Niemals würde er mir weh tun. Ich wusste es.
„Es ist besser, wenn du Abstand hältst.“
Ich zuckte zurück. Tränen brannten in meinen Augen. Akzeptier es, beschwor ich mich. Mach das, was du ihm versprochen hast.
„Dann willst du also verschwinden?“
„Nein.“ Er grinste schief. „Ich mache nur dein schönes weißes Unterhemd dreckig.“
Ich wich mit einem ersticken Lachen vor ihm zurück und musterte Louan. Alles war voller Blut. Aber die Wunden an seinem Hals waren nicht viel mehr als oberflächliche Kratzer. Eine Wunderheilung. Ein Phänomen unter vielen, mit denen er aufwarten konnte. Wieder und wieder hörte ich in meinem Kopf seine schrecklichen Worte: Nicht, wenn sie bekommen , was sie wollen.
„Wer war das vorhin?“, frage Thomas. „Ein anderer Selkie?“
Louan nickte. „Sein Name ist Raer. Er wollte mich töten, weil ich mich mit dem Feind eingelassen habe.“
„Ich dachte, du wärst allein.“
„Das dachte ich bis heute auch.“
„Wird er wiederkommen?“
„Unser Gesetz besagt, dass das Unterliegen im Kampf alle Streitigkeiten beendet. Man hat geklärt, wer der Stärkere ist. Danach gibt es keine Wut mehr.“
„Aber du traust ihm nicht?“
„Nein“, flüsterte Louan.
Thomas holte tief Luft.
„Dad“, flehte ich. „Mach es nicht noch schlimmer. Bitte! Er wollte sich Ruth und Aaron ausliefern, um mich zu schützen. Er hätte für mich alles aufgegeben.“
„Ist das wahr?“, fragte er an Louan gewandt. Und mein Selkie nickte, ohne zu zögern.
„Ich würde alles tun, um Mari zu beschützen.“
Bei diesen Worten kamen mir die Tränen. Ich wollte nicht daran denken, was hätte geschehen können. Und doch waren die Bilder in meinem Kopf in jeder Sekunde präsent. Beinahe wären wir zu spät gekommen. Wäre ich nur etwas weniger hartnäckig gewesen, hätten Ruth und Aaron ihn mitgenommen und für den Rest seines Lebens eingesperrt.
„Ich wollte gehen, um euch zu schützen“, setzte Louan hinzu. „Jetzt muss ich aus demselben Grund in eurer Nähe bleiben. Raer ist verrückt, er würde euch verletzen, nur weil ihr mir etwas bedeutet. Vielleicht hält er noch etwas auf die alten Gesetze und verschwindet, aber ich vertraue nicht darauf.“
„Du musst wegen uns gar nichts“, drang ich auf ihn ein. „Wir kommen
Weitere Kostenlose Bücher