Sturmherz
sprach: „Unser Freund ist keine verweichlichte Mimose, das hat er uns gerade bewiesen. Ich wette, er steckt so viel ein wie zehn Zivilisationsmenschen zusammen. Habe ich recht, mein Schöner? Du musst zäh und robust sein. Sonst würdest du da draußen nicht überleben.“
Sie sprach mit mir, wie Menschen zu Haustieren sprachen. Zu Geschöpfen, die sie ebenso gleichmütig streichelten wie quälten.
„Schieß, Aaron. Oder ich tu es selbst. Wenn er friedlich schläft, kümmere ich mich um ihn. Im Jeep liegt ein Notfallkoffer, der ein ganzes Krankenhaus versorgen könnte.“
„Nein!“ Aaron wich einen weiteren Schritt zurück. Wut funkelte in seinen Augen, dahinter eine hilflose Verzweiflung, die dafür sorgen würde, dass er es bei Worten beließ. „Vergiss es. Ich tu’s nicht.“
Wie eine Furie sprang Ruth auf, riss ihm das Gewehr aus den Händen und legte an. Starr blickte ich in das gähnende, schwarze Loch des Waffenlaufs. Raer würde Mari wehtun, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich hätte nie mit ihr reden, nie zu ihr gehen dürfen. Das Mädchen war unschuldig in meine Welt gestolpert, und jetzt musste sie teuer dafür bezahlen.
„Runter damit!“, brüllte in diesem Augenblick eine vertraute Stimme. „Sind Sie denn des Wahnsinns?“
In einer einzigen, synchronen Bewegung blickten wir zu dem steilen Hang hinauf, mit dem die Klippen in die Bucht abfielen. Ein großer, plumper, wie eine Dampflok schnaufender Mann kam durch das Gras auf uns zugerannt, schnell für seinen Umfang, mit wedelnden Armen und hochrotem Kopf. Vor ihm rannte ein dünnes Mädchen mit rotblondem Haar.
Mari und ihr Vater.
Vielleicht war es nur eine Einbildung meiner vernebelten Sinne. Ich sehnte mich danach, sie noch einmal zu sehen, und deshalb sah ich sie. Gleich würden sie sich auflösen und alle Hoffnung mit sich nehmen.
Doch sie verschwanden nicht.
„Verdammt!“, fluchte Ruth und drückte Aaron das Gewehr in die Hand. „Das darf doch wohl nicht wahr sein. Was suchen die denn hier?“
„Mach nichts Blödes, okay? Sonst kommen wir in Teufels Küche.“
„Klappe!“
Ruths Kopf zuckte herum wie der einer Schlange. Sie starrte zum anderen Ende der Bucht, wo sich oben auf den Klippen die Silhouette eines Jeeps abzeichnete.
„Das schaffen wir nicht. Zu weit weg. Verdammter Mist. Überlass mir das Reden. Verstanden?“
Mari und Thomas hielten keuchend auf uns zu. Der Wind trug den Geruch ihres Schweißes heran. Und das scharfe Aroma von Angst und Verwirrung. Die Wangen des Mädchens glänzten tränennass.
„Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“ Thomas kam vor Ruth zum Stehen, wobei sein mächtiger Leib wogte und zitterte und ihn durch seine schiere Masse noch einen Schritt nach vorne taumeln ließ. „Wollten Sie auf diesen Jungen schießen?“
Ruths tödlicher Blick huschte zwischen mir, Mari und Thomas hin und her. Ich konnte ihre Gedanken förmlich hören.
Wahrheit oder Lüge? Herausreden oder Messer auf die Brust setzen?
„Schießen? Ach was.“ Sie gab ein künstliches Lachen zum Besten. Ihr eisblauer Blick streifte mich, plötzlich arglos und freundlich. Ruths Stimme war ein schlechterer Lügner als ihre Augen.
„Es handelt sich nur um ein Narkosegewehr. Wir wollen einen der Seehunde mit einem Sender markieren.“
„Aha. Ein Sender also.“ Thomas schnaufte abfällig. „Und warum haben Sie damit auf diesen Jungen gezielt?“
„Das haben wir nicht. Sie müssen sich täuschen. Vermutlich hat es aus der Entfernung nur so gewirkt, als hätten wir es getan.“
„Ich weiß, was ich gesehen habe.“
„Und ich ebenfalls“, warf Mari ein. „Sie haben den Lauf direkt auf ihn gerichtet.“
„Wenn, dann war es ein Versehen. Wir arbeiten im Auftrag der Universität von Inverness.“ Ruth kramte ein kleines Stück Papier aus ihrer Hosentasche und hielt es Thomas unter die Nase. „Bitte, nehmen Sie die Karte und rufen Sie dort an. Man wird Ihnen versichern, dass mein Ruf tadellos ist.“
„Warum sind Sie hier?“, verlangte Thomas zu wissen, ohne die Karte zu beachten. Neben ihm zog Mari ihren Kopf zwischen die Schultern und sah mich an. Ihr Blick ging mir durch Mark und Bein. Ich wollte nicht, dass sie mich so sah. Blutend, schwach und hilflos. Nur kurz wagte ich es, in ihre Augen zu sehen. Nach zwei Herzschlägen wandte ich mich ab und starrte auf Thomas sandverkrustete Lederschuhe.
„Ich dachte, Sie wollten nach Skara Brae?“
„Ja, aber heute sehen wir uns erstmal die Küste an.“
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