Sturmherz
mich hinter sich her und umrundete den Felsen. Dad folgte uns mit wackligen Schritten. Etwas Helles schimmerte in den Wellen, ein dunkler Schatten tauchte ganz in der Nähe dieses Dings auf, wirbelte herum und entfernte sich schnell.
„Ein Seehund“, erklärte Louan. „Er beschützte meine Haut vor Raer.“
„Hätte er sie dir sonst gestohlen?“, fragte ich.
„Ich denke schon.“
„Obwohl es deinen Tod bedeutet hätte?“
Louan warf mir nur einen seltsamen Blick zu. Durch den Felsen geschützt vor eventuellen Beobachtern, die von den Klippen aus zu uns hätten hinunterblicken können, zog er sich aus, fischte das Fell aus dem Wasser und legte es sich um seine Schultern. Anmutig streckte er sich in der Brandung aus.
Es war ein Anblick, der mir das Herz zusammenschnürte. Bewunderung, Angst, Faszination und tief empfundene Ehrfurcht vereinten sich miteinander, ohne dass eines der Gefühle die Oberhand gewann. Als der Seehund sich mit Louan vereinte und sein Körper zerfloss wie Quecksilber, um neu zu entstehen, spürte ich das pure, überwältigende Wunder der Schöpfung.
Ich weinte lautlose Tränen, Dad murmelte mit weit aufgerissenen Augen etwas vor sich hin. Nichts konnte ergreifender sein als das, was sich vor mir abspielte. Ich ging in die Knie, umarmte seinen geschmeidigen, silbernen Körper. Hauchte Küsse auf seine Schnauze und schmiegte mich an ihn.
„Ich liebe dich“, flüsterte ich. „Den Menschen und das Tier.“
Als das Fell unter mir aufriss und blasse Haut entblößte, zuckte ich nicht zurück. Reglos sah ich zu, wie der Körper des Tieres starb und den Menschen gebar. Behutsam schöpfte ich Wasser mit meinen hohlen Händen und goss es über Louans Körper, während mein Blick immer wieder die Klippen absuchte. In meditativer Ruhe streichelte ich seine Haut, säuberte sie von den Resten der Verwandlung, hauchte Küsse darauf und gab ihm damit zu verstehen, dass nichts an ihm war, was mich erschreckte.
Stumm ließ er all das geschehen. Sein Blick ruhte auf mir, während ich mit beiden Händen über seine Brust strich, über Schultern, Hüften und Schenkel. Die Wunden waren nur noch verblassende, rötliche Narben.
Als seine Haut gesäubert war, sank ich neben ihn in das Wasser und ließ mich von seiner Umarmung wiegen. Es war kalt und nass, aber das war mir egal.
Für wenige Momente erlaubte ich mir vollkommenes Glück, bis die Vorsicht wieder den Sieg davon trug.
„Komm“, sagte ich zu ihm. „Heute ist dein erster Tag als Mensch. Wir sollten es in Angriff nehmen.“
Kapitel 10
Als der Mond am Himmel stand
„Wie Träume liegen die Inseln
im Nebel auf dem Meer.
Noch einmal schauert leise
und schweiget dann der Wind.
Vernehmlich werden die Stimmen,
die über der Tiefe sind.“
Theodor Storm
~ Mari ~
N ie war die Zeit so schnell verflogen. Die Tage jagten wie Stromschnellen an mir vorüber, angereichert mit soviel Aufregung und Glück, dass ich mich fühlte, wie in einem reißenden Strom, und mir wünschte, ihn langsamer fließen lassen zu können.
Louan wurde zum Menschen, und seine beiden Schatten namens Ruth und Aaron fanden nichts, das ihre Theorie bewies.
Geschickt waren sie zweifellos. Nie überschritten sie die Grenze, hinter der sie meinem Vater einen Grund gegeben hätten, Anzeige zu erstatten.
Was selbstredend ein Wagnis gewesen wäre, denn da Louan keinerlei Papiere, geschweige denn einen Ausweis besaß, war jede Aufmerksamkeit heikel.
Wie harmlose Touristen hockten Ruth und Aaron im Café gegenüber der Gärtnerei, wenn Louan und ich meinem Vater halfen. Sie streiften im Hafen herum, wenn wir gemeinsam mit MacMuffin zum Fischen hinausfuhren oder am Abend auf der Mauer saßen, um dem Mondaufgang zuzusehen. Der Verdacht, Louan sei ein gewöhnlicher Mensch, schien zusehends ihren Eifer zu dämpfen. Allein Ruths Verbissenheit war es zu verdanken, dass wir noch immer verfolgt wurden, während ihr Kollege der Miene nach zu urteilen lieber heute als morgen nach Inverness zurückgekehrt wäre.
Ihre Beschattungen wurden dadurch erschwert, dass alle im Dorf zusammenhielten und die beiden keinen Schritt tun konnten, ohne von argwöhnischen Blicken verfolgt zu werden. Ruth und Aaron waren den Fischern und ihren Familien ein Dorn im Auge, da half nicht einmal der Lockruf der versprochenen Belohnung. Sie waren Eindringlinge, deren wahre Absicht allen außer Dad, Louan und mir verborgen blieb, was das Misstrauen von Tag zu Tag vertiefte. Vielleicht waren die Beschatter der
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