Sturmherz
In Ruths Stimme vibrierte die Empörung. Wieder sah sie mich an, einen kurzen Moment lang, und übermittelte mir eine stumme Botschaft.
Nächstes Mal. Ich schwöre es dir.
„Wir fuhren oben am Rand der Klippen entlang, als wir den Jungen hier unten sahen. Er schien mit jemandem zu kämpfen. Es sah übel aus. Also kamen wir hier runter und wollten den Streit schlichten, aber da war der zweite Junge bereits verschwunden. Sie sollten sich darum kümmern.“ Ruth deutete auf meine Hand, mit der ich noch immer auf meinen Hals drückte. „Er braucht einen Arzt.“
„Das werden wir.“ Thomas Stimme klang leise und lauernd. „Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Und falls Sie zu denen gehören, die hierher kommen, um Selkies zu jagen, muss ich Sie enttäuschen.“
Ruth öffnete perplex den Mund, Aaron keuchte kaum hörbar. Maris Blick sprach Bände, und ich war verzweifelt darum bemüht, stur auf Thomas Schuhe zu starren.
Langsam wichen die Kopfschmerzen. Die Wunden an meinem Hals hatten sich fast geschlossen, die Schmerzen flauten ab. Ich hörte den Ruf eines Seehunds, draußen unter den Wellen, und er sagte mir, dass mein Fell in Sicherheit war.
Gleich , antwortete ich ihm in der Sprache des Meeres. Ich rufe dich, wenn es soweit ist.
„Was meinen Sie bitte?“, presste Ruth zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Selkies? Ich bitte Sie.“
„Man hält es nicht für möglich, wie oft abergläubische Idioten hier einfallen“, erwiderte Thomas mit einem spöttischen Lächeln. „Unsere Jungs machen sich einen Riesenspaß daraus, Fotos und Videos zu fälschen. Hast du letztens nicht bei so was mitgemacht, Louan? Wie hieß der Typ, mit dem du auf Skara Brae warst?“
„Tom“, gab ich spontan zurück. „Er hieß Tom.“
„Ja, Tom. Genau. Der Schlimmste von allen. Der Kerl hat zu Hause ein ganzes Arsenal an Grafikbearbeitungsprogrammen. Der zaubert Ihnen die tollsten Videos, von einer Meerjungfrauenparty bis hin zu einer täuschend echten Selkie-Verwandlung. Ein Genie, der Junge. Leider lenkt er sein Können in die falsche Richtung. Der wird sich noch einen Riesenärger wegen seiner Scherze einhandeln.“
Ruths Miene gefror. Sie warf einen zornigen Blick auf Aaron, der ihn schulterzuckend erwiderte.
„Haben Sie etwa eines seiner Videos gesehen?“, hakte Thomas nach. „Am Ende etwa das, was die beiden auf Skara Brae gedreht haben? Oh, diese Bengel. So oft habe ich schon mit Louans und Toms Eltern geredet, aber die lassen ihnen die Zügel immer noch locker. Glauben Sie mir, der Freund meiner Tochter ist kein Selkie. Seit dem Videodreh kocht seine Fantasie nur ein bisschen über. Verübeln kann ich es ihm nicht. Der Junge hat achtzehn Jahre in der Stadt gelebt und macht das erste Mal auf den Orkneys Urlaub. Die Seeluft steigt jungen Bengeln wie ihm gehörig zu Kopf. Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen Louans Eltern vor. Sein Vater ist mein Cousin. Und wenn es Sie tröstet, auf die gefälschten Videos sind schon viele reingefallen. Letzthin kam eine ganze Busladung Esoterikfans, die der Meinung waren, hier gäbe es Selkies. Sie hielten spirituelle Rituale am Strand ab und zogen nach ein paar Tagen enttäuscht ab, weil keine übersinnlichen Wesen auftauchten und sie erleuchteten.“
Ruth sagte nichts. Sie holte tief Luft, ballte ihre Hände zu Fäusten, warf mir einen finsteren, von einer unmissverständlichen Drohung erfüllten Blick zu, und wandte sich um. Aaron schnappte ihren Arm, als wolle er sichergehen, dass sie ihre Meinung nicht änderte. Mit einer Grobheit, die ich diesem Mann nicht zugetraut hatte, zog er sie hinter sich her. Ihre Stimmen entfernten sich.
Mari, Thomas und ich taten nichts, bis die beiden in ihren Jeep stiegen und davonbrausten. Dann, als wir endlich unbeobachtet waren, stürzte Mari sich auf mich und küsste mich. Verzweifelt, tränennass und losgelöst.
~ Dr. Ruth Chapman ~
„Da hast du’s. Wir jagen einer Fälschung hinterher. Habe ich es nicht gesagt? Wir machen uns doch zum Affen, und du bindest ihm das auch noch auf die Nase.“
„Halt die Klappe!“ Ruth brodelte und tobte. Weil sich der Selkie trotz dieser günstigen Gelegenheit nicht in ihrer Gewalt befand, weil sie um ein Haar die Beherrschung verloren hätte, und weil Aaron sie hinter sich herzerrte, als sei sie ein Kind. Scheiße noch mal, warum waren Männer ebenso stark, wie sie einfältig waren? Sie musste zurück. Sie musste sich holen, was ihr zustand. Die Sache mit der Fälschung war doch
Weitere Kostenlose Bücher