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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Beschatter der einzige Grund, der Ruth von drastischeren Maßnahmen abhielt. Ich zweifelte nicht daran, dass die Fischer sie im Fall eines Verstoßes gegen den Dorffrieden in einen Sack gesteckt und höchstpersönlich zurück nach Inverness verschifft hätten.
    Mein Selkie war ein begnadeter Schauspieler. Er eroberte Olivias Herz, das meines Vaters und selbst das des knurrigen MacMuffins im Sturm. Letzterer hatte vor Erleichterung ein Dankgebet gen Himmel gesandt, als Ruth ihm mit zuckrigem Lächeln den Schlüssel seines Kutters zurückgegeben hatte. Natürlich mit dem Hinweis, ihn sich jederzeit wiederholen zu können – und zwar, ohne Fragen erwarten zu müssen.
    Louan schien sich schnell an sein neues Leben zu gewöhnen. Er war neugierig und begeisterungsfähig, und bald übermannte mich das Gefühl, er hätte schon immer in unser Leben gehört. Selbst das Schleppen von Säcken in der Gärtnerei machte mir Freude, wenn wir es gemeinsam taten. Nur einmal geschah Louan der Fehler, vier der schweren Säcke mit vergnügter Miene gleichzeitig zu schleppen, obwohl selbst mein Vater bei dem Gewicht von zweien kapitulierte. Glücklicherweise geschah es zu einem Zeitpunkt, an dem wir unbeobachtet waren. Inmitten der tropischen Pflanzen küssten wir uns, wann immer wir die Gelegenheit dazu fanden, oder wir zogen uns ins Lager zurück, um dort unseren Hunger aufeinander zu stillen, immer erfüllt von dem Drang, jeden Augenblick der guten Zeit auszukosten, bevor der Fluss des Schicksals eine andere Richtung einschlug.
    Das Gleiche tat mein Dad mit Olivia, die am zweiten Tag nach Louans Integration mit zwei Koffern vor der Tür stand und fortan bei uns wohnte. Oft hörte ich nachts Geräusche, als würden die beiden Möbel verrücken, aber der wahre Grund des Lärms ging höchstwahrscheinlich in eine ganz andere Richtung. Mir war es recht. Einerseits tat meinem Vater das gemeinsame Möbelrücken mit Olivia gut und vertrieb die Sorgenfalten aus seinem Gesicht, andererseits verbrachten Louan und ich die Nacht ebenfalls selten mit schlafen.
    War eine Nacht mondlos und so finster, das man die Hand vor Augen nicht sah, gab mein Selkie unter aller gebotenen Vorsicht dem Ruf des Meeres nach und verschwand für mehrere Stunden. Ich tat in jenen Nächten vor Sorge kein Auge zu, sondern wartete hellwach unten im Wohnzimmer und trank Unmengen an Kaffee, bis Louan in der Morgendämmerung zurückkehrte. Erschöpft, atemlos und mit dem Glitzern purer Lebenslust in seinen Augen.
    Manche modernen Dinge fanden seine Begeisterung: Naturdokumentationen im Fernsehen, bevorzugt solche über Korallenriffe. Pizzas, Kinovorstellungen, die Badewanne und mein MP3-Player.
    An andere gewöhnte er sich notgedrungen: Kleine rote Quallen, Autofahrten und Supermärkte.
    Wieder andere Alltäglichkeiten meiner Welt ernteten nur sein Unverständnis. Vergeblich versuchte ich ihm, die Regeln der modernen Welt zu erklären. Arbeit, Steuern, Schule und Abschlüsse. Prüfungen, Altersheime, zahllose Gesetze und Fernsehshows, in denen sich Menschen am Leid anderer Menschen ergötzten.
    „Ein vernünftiges Geschöpf“, befand er irritiert, „braucht keine Gesetze. Es weiß von Natur aus, was gut und was schlecht ist.“
    Trotz seiner Befremdung arbeitete er sich mit wachsender Neugier durch sämtliche Bücher und Zeitschriften, die er im Arbeitszimmer meines Vaters finden konnte, was zur Folge hatte, das er über den Zustand dieses Planeten bald besser Bescheid wusste als viele Menschen.
    Er verlor selten ein Wort darüber, doch ich sah, wie die Gedanken unter seiner stoischen Maske aus Gelassenheit brodelten.
    Was er wirklich über uns Menschen dachte, würde er nie laut aussprechen. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich es auch nicht wissen.
    „Die sagen dir selten die Wahrheit“, beschwor ich ihn, als er mal wieder mit konfuser Miene vor dem Küchenradio saß und Nachrichten hörte. „Es geht in erster Linie darum, dir eine bestimmte Meinung einzutrichtern. Mit der Wahrheit hat das meistens nichts zu tun.“
    „Warum lügen sie?“
    „Weil sie uns kontrollieren wollen. Es gibt eine Geschichte, die das ganz gut in Worte fasst: Eines Tages besuchte ein Dämon den Teufel. Beeindruckt fragte er ihn: Wie hast du es nur geschafft, soviel Hass und Krieg auf der Welt zu säen? Der Teufel antwortete: Ganz einfach, ich nahm eine Geschichte und schrieb mehrere Versionen davon. Danach ging ich zu den Menschen, verteilte unter ihren Herrschern die Geschichten und sagte

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