Sturmjahre
studiert?«
Überrascht hob sie den Kopf. »Ich habe nicht Medizin studiert.«
Obwohl sein Gesichtsausdruck sich nicht veränderte, war die Verwunderung in seinen Augen zu sehen. »Aber Sie haben doch gewiß eine medizinische Ausbildung? Als Krankenpflegerin vielleicht?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Unglaublich«, sagte er und musterte sie mit wachsendem Interesse. »Sie haben sich vorhin an der Unfallstelle so professionell verhalten, daß ich annahm, Sie wären Ärztin oder mindestens Krankenschwester. Ich hätte Sie selbstverständlich nicht so gefordert, wenn ich gewußt hätte, daß das nicht der Fall ist. Das tut mir wirklich leid.«
Sie sahen einander an. Es war ganz still, und Samantha hörte nur den erregten Schlag ihres Herzens. Dann öffnete sich die Tür, und Mrs. Wiggens brachte den Tee.
Die alte Frau zeigte flüchtige Überraschung und warf einen kritischen Blick auf Samantha. Als sie davonging, sagte Dr. Masefield: »Ich bekomme so selten Besuch, daß Mrs. Wiggen sich manchmal vergißt. Entschuldigen Sie.«
Nachdem Mrs. Wiggen den Tee gebracht hatte, holte sie einen Rock, und Samantha zog sich im Behandlungszimmer um. Der Ersatzrock, aus gutem Wollstoff, hatte eine schmale Taille; der rundlichen Haushälterin gehörte er sicher nicht. Wem dann?
»Sie müssen verzeihen, daß ich einfach so über Sie verfügt habe, Miss Hargrave«, sagte Joshua Masefield, als sie wieder in den Salon trat. »Hätte ich gewußt, daß Sie nicht als Ärztin Hilfe leisteten, sondern rein aus Menschlichkeit, ich hätte Sie nicht einfach so angestellt. Daß man sich so täuschen kann!«
Samantha hielt die Lider gesenkt. Sie brachte es jetzt, wo er ihr gegenübersaß, nicht fertig, ihm ins Gesicht zu sehen. »So sehr haben Sie sich gar nicht getäuscht, Dr. Masefield«, erwiderte sie scheu.
In aller Kürze berichtete sie von ihren Erfahrungen in England, ihrer Freundschaft mit Elizabeth Blackwell und ihrem Wunsch, in Amerika Medizin zu studieren. Joshua Masefield hörte ihr mit Interesse zu, und als sie zum Ende gekommen war, wirkte er sichtlich erleichtert. Gerade, {109} als er etwas sagen wollte, hörten sie draußen Schritte. Gleich darauf klopfte es.
Der Krankenwagen vom St. Brigid’s Krankenhaus war angekommen. Joshua half dem Sanitäter, den Jungen auf der Bahre hinaustragen, während Samantha im Salon wartete. Als der Arzt zurückkam und sich wieder setzte, sagte sie entschlossen: »Mein Rock ist doch jetzt sicher fertig.«
»Haben Sie es so eilig? Mrs. Wiggen sagt Ihnen gewiß gleich Bescheid, wenn Sie so weit ist.«
»Ist Mrs. Wiggen Ihre Helferin?«
»In gewisser Weise. Sie hat zwar keine Ausbildung, aber sie achtet darauf, daß die Patienten der Reihe nach aufgerufen werden, und sie macht nach den Sprechstunden sauber. Ab und zu assistiert sie mir auch, so wie sie das heute getan hätte, wenn Sie nicht gewesen wären.«
Samantha zwang sich, ihn anzusehen. »Haben Sie nie daran gedacht, einen Praktikanten zu nehmen?«
»Doch. Ich habe mich vor kurzem dazu entschlossen. Er fängt nächste Woche hier an. Ein Medizinstudent.«
Die Hoffnung, die sich flüchtig in ihr geregt hatte, war schon wieder zerstört.
Er hatte ihr die Enttäuschung offenbar angesehen, denn er fragte: »Was ist denn, Miss Hargrave?«
Stockend erzählte sie von den sieben Tagen vergeblicher Suche nach einer Praktikumsstelle und gestand, daß sie nahe daran war, alle Hoffnung aufzugeben.
»Sie wollen also im Januar anfangen, am Infirmary zu studieren«, sagte er. »Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Sie überall abgewiesen werden. Die meisten Ärzte wollen niemanden anlernen und ihn dann, wenn er gerade auf dem laufenden ist, wieder verlieren. Ein Jahr ist das Mindeste, was sie verlangen.«
Samantha lächelte dankbar, schüttelte jedoch den Kopf. »Es ist nett von Ihnen, das zu sagen, Dr. Masefield, aber ich glaube nicht, daß das der Grund war, weshalb ich überall abgewiesen wurde.«
Mrs. Wiggen erschien wieder, Samanthas Rock in der Hand. »Er ist noch feucht, aber der Fleck ist raus.«
Samantha ging wieder ins Behandlungszimmer hinüber und zog sich um. Sie sah, daß Mrs. Wiggen inzwischen saubergemacht hatte und daß die Instrumente, die Dr. Masefield gebraucht hatte, in einer Schale mit Karbol lagen.
Wieder im Salon, sagte sie: »Die amerikanischen Ärzte scheinen sehr {110} fortschrittlich zu sein. In England hat sich Mr. Listers Theorie überhaupt nicht durchgesetzt.«
Joshua Masefield stand auf. »Hier auch
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