Sturmjahre
Männeruniversität studiert.
Doch Samantha würde hinreichend Zeit haben, sich zu entscheiden, auch wenn das gar nicht in ihre Pläne paßte. Im Augenblick nämlich waren alle Studien- und Laborplätze am Infirmary belegt. Emily Blackwell hatte ihr jedoch zugesagt, daß man sie im Januar aufnehmen würde, und hatte ihr geraten, sich in der Zwischenzeit eine Praktikumsstelle bei einem praktizierenden Arzt zu suchen. Samantha, die wußte, daß auch Elizabeth vor Beginn ihres Studiums ein Praktikum absolviert hatte, nahm dankbar die Liste empfohlener Ärzte, die Emily Blackwell ihr vorlegte.
Voller Optimismus machte sie sich gleich am folgenden Tag auf die Suche nach einer geeigneten Stelle, aber sie hatte kein Glück. Mit jeder Absage, die sie bekam, wurde sie mutloser. Einige der vorgeschlagenen Ärzte hatten bereits Praktikanten; die anderen meinten, ihre Praxen wären nicht groß genug, um eine Praktikantin zu tragen.
Spät abends, allein in ihrem Zimmer, zählte Samantha ihr Geld und rechnete sich aus, daß es bei äußerster Sparsamkeit drei Monate reichen würde. Sie mußte schleunigst etwas unternehmen, wenn sie nicht gleich zu Beginn ihres Wegs scheitern wollte.
Am nächsten Tag nahm sie sich die Zeitungen vor und strich sich alle Annoncen von Ärzten an, die Praktikanten suchten. Mehrere Tage lang {103} marschierte sie kreuz und quer durch Manhattan und bot ihre Dienste an. Die Reaktionen reichten von unverhohlener Erheiterung zu lautstarker Entrüstung. Die meisten waren schockiert über ihren Vorschlag, nannten ihn unmoralisch; einige lachten gutmütig, überzeugt, daß sie es nicht ernst meinte.
Sie fing im vornehmen Teil Manhattans an und arbeitete sich langsam und mit einigem Widerstreben hinunter in den zehnten Bezirk, auch unter dem Namen Schweinemarkt oder Typhusbezirk bekannt, das am dichtesten bevölkerte Elendsviertel Manhattans. Sie versuchte ihr Glück in Little Italy, wo sich Kindergeschrei mit den lauten Rufen der Straßenverkäufer mischte. Sie versuchte es im jüdischen Viertel, wo ihr auf Schritt und Tritt strengblickende Rabbis begegneten und vollbärtige Trödler an den Straßenecken ihre Waren feilboten. Leute aller Altersklassen bettelten sie an, dreiste Straßenkinder und schüchterne junge Frauen, die die Fülle ihres schwangeren Leibes züchtig unter großen Tüchern zu verbergen suchten. Ärzte gab es hier wenige, und die, zu denen sie vordrang, sprachen entweder kein Englisch oder schickten sie mit ernster Ermahnung, daß ein junges Mädchen nach Hause gehörte, wieder fort.
Eine Woche lang nahm sie jeden Tag wieder neuen Anlauf, eilte durch fremde Straßen, treppauf und treppab, handelte sich eine Absage nach der anderen ein, kam abends todmüde nach Hause, badete ihre geschwollenen Füße in kaltem Wasser und fiel dann erschöpft in ihr Bett. Aber trotz aller Enttäuschungen ließ sie den Mut nicht sinken. Im Gegenteil, mit jeder Zurückweisung wuchs ihre Entschlossenheit. Irgendwo in dieser großen Stadt mußte es einen Arzt geben, der sie aufnehmen würde.
3
Der Unfall ereignete sich genau an der Ecke 8. Straße und Second Avenue. Samantha wollte gerade die Fahrbahn überqueren, als ein junger Mann auf seinem blitzenden Hochrad vorüberflitzte. Als er sie sah, lüftete er lächelnd seine modische blaue Polomütze und drehte sich, schon an ihr vorüber, winkend nach ihr um. Samantha sah den Wagen um die Ecke biegen und öffnete den Mund, um dem jungen Mann eine Warnung zuzurufen. Doch es war zu spät. Die Pferde scheuten laut wiehernd, das blitzende Fahrrad und der elegante Phaeton prallten klirrend aufeinander. Die Pferde bäumten sich in panischem Schrecken auf, und der Wagen stürzte um, direkt auf eine unbesetzte Droschke, deren Kutscher von der Wucht des Aufpralls vom Bock geschleudert wurde.
{104} Innerhalb von Sekunden war es vorüber. Die Kreuzung bot ein chaotisches Bild. Die Pferde lagen schreiend auf der Straße und versuchten, wieder auf die Beine zu kommen; Räder drehten sich lautlos an gebrochenen Achsen; andere Wagen bremsten vor der Unfallstelle ab oder versuchten erfolglos, sie zu umrunden, und im Nu staute sich der gesamte Verkehr. Passanten rannten zu dem umgestürzten Wagen; Samantha war als erste dort.
Der Droschkenkutscher war tot. Er war mit dem Kopf direkt an einen Telegrafenmasten geprallt. Die vier Insassen des Zweispänners lagen an verschiedenen Stellen auf der Straße; einer war bewußtlos, zwei jammerten stöhnend nach Hilfe, der
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