Sturmjahre
nur bei jämmerlich wenigen Ärzten, Miss Hargrave. Ich las in verschiedenen Fachzeitschriften über Listers Methode und habe dann selber experimentiert. Ich war augenblicklich überzeugt. Aber die Mehrheit der amerikanischen Ärzte bekämpft derzeit noch die Mikrobentheorie.«
»Ach …« Sie fuhr sich mit beiden Händen glättend über ihren Rock. »Ja, also …«
Joshua Masefield ging an ihr vorbei zur Haustür. »Soll ich Ihnen eine Droschke rufen?«
»Nein danke, ich habe es nicht weit. Ich wohne gleich in der Houston Street bei Mrs. Chatham. Herzlichen Dank für den Tee.«
»Ich danke
Ihnen
, Miss Hargrave. Der Junge verdankt Ihnen sein Leben.«
Im hellen Sonnenlicht, das durch die offene Tür strömte, kniff sie die Augen zusammen. »Das sicher nicht. Sie haben ihn doch – ach, du lieber Gott!«
»Was ist denn?«
»Meine Handschuhe. Ich habe sie vorhin bei dem Unfall ausgezogen und liegengelassen. Jetzt sind sie sicher weg. Es war mein einziges Paar.«
Er stand schweigend an der offenen Tür.
Sie lächelte schüchtern. »Auf Wiedersehen, Dr. Masefield«, sagte sie und eilte die Treppe hinunter.
Sie konnte nicht schlafen. Während sie in der Dunkelheit lag und Louisas ruhigen Atemzügen lauschte, dachte sie an Joshua Masefield. Was war es an ihm, das sie so faszinierte? Natürlich seine ungewöhnliche Erscheinung, das rabenschwarze Haar mit der leichten grauen Melierung, die hochgewachsene, breitschultrige Gestalt, die Haltung, die sie an einen Offizier erinnerte. Aber das wirklich Faszinierende war, daß er ihr von einem Geheimnis umschleiert schien. Joshua Masefield schien ihr in einer tiefen Melancholie befangen, einer Schwermut, die sich vor allem in den dunklen Augen zeigte. Und hatte er nicht irgendwie maskenhaft auf sie gewirkt, als sei er ständig darauf bedacht, sich ja nicht zu zeigen?
Samantha schüttelte im Dunklen ungeduldig den Kopf. Es gab Wichtigeres, worüber sie nachdenken mußte: Wie sie es anstellen sollte, trotz aller Widrigkeiten mit ihrem bißchen Geld auszukommen.
{111} 4
Der Botenjunge kam vier Tage später. Da Samantha auf Stellensuche unterwegs war, nahm Mrs. Chatham das Päckchen entgegen und legte es Samantha ins Zimmer. Als sie am Abend nach einem weiteren Tag voller Enttäuschungen nach Hause kam, fand sie es und öffnete es neugierig. Es enthielt, in Seidenpapier eingewickelt, ein Paar perlgraue Wildlederhandschuhe und dazu einen kurzen Brief. ›Zum Dank für Ihre tatkräftige Hilfe. J. M.‹
Sie war nervös, als sie am nächsten Morgen zu ihm ging, und ärgerte sich darüber. Sie würde höflich, aber kurz sein, nahm sie sich vor. Vielleicht konnte sie die Schachtel sogar Mrs. Wiggen übergeben, ohne ihn überhaupt sprechen zu müssen, und ihm ausrichten lassen, daß sie seine Großzügigkeit zwar zu schätzen wisse, das Geschenk aber unmöglich annehmen könne.
Leider war der Vorsaal voller Patienten und Mrs. Wiggen war nirgends zu sehen. Während die Leute sie neugierig anstarrten, sah sie sich nach einem Sitzplatz um. An den Wänden standen zwei lange Bänke, die schon besetzt waren. Samantha mußte mit zwei Männern und einem kleinen Jungen stehen. Es war erstaunlich still in dem Raum mit den vielen Menschen.
Als die Tür des Behandlungszimmers sich öffnete, gab es Samantha einen Stich. Joshua Masefield rief »Mr. Giovanni«, einer der Männer, die mit Samantha standen, riß sich die Mütze vom Kopf, eilte ins Sprechzimmer, und die Tür schloß sich hinter ihm. Samantha wußte nicht, ob Joshua Masefield sie überhaupt bemerkt hatte.
Als sich die Tür des Sprechzimmers wieder öffnete, fuhr sie zusammen. Der Italiener kam mit einer leise weinenden kleinen Frau heraus. Samantha schaute zu Joshua Masefield hinüber, und ihre Blicke trafen sich flüchtig. Dann sagte er: »Der nächste bitte« und zog sich zurück. Eine junge Mutter mit einem Säugling stand auf, und alle rutschten einen Platz nach.
Samanthas Nervosität wandelte sich in Ungeduld und dann in Gereiztheit, als die nächsten drei Patienten aufgerufen wurden, ohne daß Joshua Masefield von ihr auch nur Notiz nahm. Gerade, als sie sich überlegte, ob sie einfach aufstehen und wieder gehen sollte, kam Mrs. Wiggen durch den Flur auf sie zu.
»Bitte kommen Sie, Miss Hargrave«, sagte sie kurz.
Sie führte Samantha in einen Raum neben dem Sprechzimmer. Es schien Joshua Masefields Arbeitszimmer zu sein. Vor dem großen offenen Ka {112} min gruppierten sich ein bequemes Sofa und zwei schwere
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