Sturmjahre
vierte bemühte sich aufzustehen. Ihr Kutscher kroch benommen und mit verschrammtem Gesicht unter dem Wagen hervor. Der junge Radfahrer war unter der Kutsche eingeklemmt, den rechten Arm, der in unnatürlichem Winkel vom Körper abstand, zwischen den verbogenen Speichen seines Hochrads.
Während mehrere Männer sich bemühten, die schwere Droschke hochzuhieven, um den jungen Mann zu befreien, riß Samantha sich ihren weißen Seidenschal vom Hals und band ihn in aller Eile fest um den blutenden Oberarm des jungen Mannes. Mit der Droschke bewegte sich auch das Fahrrad, und der junge Mann heulte laut auf vor Schmerz. Samantha untersuchte den Jungen hastig nach weiteren Verletzungen, prüfte seine Pupillen und fühlte seinen Puls, der sehr schnell schlug. Aus der Wunde am Arm floß trotz der Abbindung ein stetiger Blutstrom.
»Wir brauchen einen Krankenwagen«, rief Samantha laut. »Kann jemand einen Krankenwagen holen?«
Um die Unfallstelle hatte sich eine gaffende Menge gesammelt. Eine junge Frau war in Ohnmacht gefallen und wurde von zwei Männern befächelt. Mehrere andere Männer bemühten sich, den Insassen des Phaeton auf die Beine zu helfen. Der junge Radfahrer war schweißgebadet; zum Glück war er ohnmächtig geworden.
Als die Männer die Droschke endlich aufgestellt hatten, fingen zwei von ihnen an, an dem Fahrrad zu zerren.
»Nein!« rief Samantha. »Nicht so. Sie müssen ganz vorsichtig sein. Sonst verliert er den Arm.«
»Hören Sie mal, junge Frau –«
»Versucht jemand, einen Krankenwagen zu holen?«
»Ich glaub’ schon. Wer sind Sie überhaupt?«
Der Junge stöhnte qualvoll. Samantha beugte sich über ihn und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Immer noch sickerte Blut aus der Armwunde auf die Straße.
{105} Ein Mann im schwarzen Gehrock und Zylinder bahnte sich einen Weg durch das Getümmel. Bei jedem Opfer beugte er sich nieder und untersuchte es hastig. Als er Samantha und den verletzten Jungen erreichte, kniete er nieder und beugte sich über den Bewußtlosen. Zuerst untersuchte er den Arm, dann Kopf und Hals. Er klappte das schwarze Köfferchen auf, das er bei sich hatte, und entnahm ihm ein Stethoskop.
Samantha musterte ihn neugierig. Das Gesicht unter dem Zylinder war markant: sehr dunkle Augen unter dichten Brauen, eine große, gerade Nase, schmaler Mund, ein kantiges, energisches Kinn. Die leicht ergrauten Schläfen ließen sie vermuten, daß er um die Vierzig sein müsse.
Als er sich aufrichtete und das Stethoskop wieder einsteckte, sagte Samantha: »Die anderen –«
»Sie sind glimpflich davongekommen. Ihre Verletzungen können warten, bis der Krankenwagen kommt. Aber dieser Junge muß sofort versorgt werden.«
Ein Polizist drängte sich durch die Menge. »Das St. Brigid’s schickt einen Sanitätswagen, Dr. Masefield.«
»Wir müssen den Jungen hier in meine Praxis bringen. Sofort. Ich brauche jemand, der mir beim Tragen hilft.«
»He, Sie beide da!« rief der Polizist mit dröhnender Stimme zwei Männer an. »Kommen Sie her!«
Jetzt erst sah der Fremde Samantha an. Sie fand das ernste Gesicht sehr schön. »Halten Sie seinen Arm«, sagte er, »dann versuche ich, das Rad wegzuziehen. Wenn Sie spüren, daß der gebrochene Knochen sich verschiebt, geben Sie mir sofort Bescheid.«
Der Polizist kniete nieder und umfaßte die Felge des Rades. Während er und der Arzt vorsichtig zu ziehen begannen, hielt Samantha den Arm des Jungen. Er stöhnte leise, doch er erwachte nicht aus seiner Ohnmacht. Fest hielt sie die Enden des gebrochenen Knochens bewegungslos, während das Rad langsam weggezogen wurde.
Dann sprang der Arzt auf. »Seien Sie sehr vorsichtig, wenn Sie ihn jetzt tragen. Wenn Sie stolpern, kann es passieren, daß die Enden des gebrochenen Knochens Nerven oder Blutgefäße zerfetzen. Wenn wir Glück haben, können wir den Arm retten.«
Während die beiden Männer den Jungen vorsichtig hochhoben und sich dann in Bewegung setzten, stand Samantha auf. Der Arzt wollte schon gehen, drehte sich aber noch einmal um und sagte kurz: »Kommen Sie mit?«
Seine Praxis war nicht weit. Sie gingen durch einen Vorsaal in das Be {106} handlungszimmer, in dem es nach Karbol roch. Während die Männer den Jungen vorsichtig auf den Untersuchungstisch legten, gab der Arzt Samantha knappe Anweisungen.
»Klemmen finden Sie in dem Schrank da. Ich brauche Darm und Seide. Ziehen Sie sie erst durch die Säure. Eine Schürze hängt hinter der Tür.«
Während Samantha, die keine Ahnung
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