Sturmjahre
hatte, was von ihr erwartet wurde, das Nahtmaterial herausholte, nahm der Arzt seinen Zylinder ab, schlüpfte aus dem Rock und rollte die Ärmel seines Hemdes auf.
»Gießen Sie etwas Karbol in die Schale da.«
Mit hastigem Blick suchte Samantha auf den Borden und entdeckte eine große Flasche Karbolsäurelösung. Sie nahm sie, entkorkte sie und goß etwas von der Flüssigkeit in die Emailschale.
Einmal, als sie gerade bei Elizabeth Blackwell zu Besuch gewesen war, hatte man der Ärztin einen verletzten Schornsteinfeger in die Praxis gebracht. Elizabeth hatte die Seidenfäden zu einer Länge von etwa 60 cm geschnitten. Samantha suchte sich eine Schere und schnitt die Fäden jetzt zu etwa gleicher Länge.
»Bringen Sie mir die Schale da«, sagte der Arzt kurz.
Der Arzt tauchte seine Hände in die Karbollösung, trocknete sie mit einem Handtuch und ging daran, den blutdurchtränkten Schal vom Arm des Jungen zu entfernen.
»Legen Sie jetzt die Fäden in die Schale mit der Säure.«
»Sie haben den Arm wahrscheinlich gerettet«, meinte er, als er den Schal abnahm und in den Eimer warf. »Okay, bringen Sie jetzt die Lampe hierher und halten Sie sie so, daß sie direkt in die Wunde leuchtet.«
Sie arbeiteten fast eine Stunde. Der Arzt reinigte auf einem Hocker sitzend wie ein Goldschmied die Wunde, band mehrere Blutgefäße ab. Samantha half ihm beim Einrichten des Knochens, rannte hin und her, um ihm zu holen, was er brauchte, drehte die Lampe, so daß er immer gut sehen konnte, und tränkte am Schluß den Verband im Karbol. In der ganzen Zeit sah der Arzt sie nicht ein einzigesmal an.
»So«, sagte er schließlich, lehnte sich zurück und wischte sich das Blut von den Händen. »Jetzt kann ihn der Krankenwagen holen.«
Samantha stand unsicher da und zupfte an der blutbespritzten Schürze.
Der Arzt stand auf und beugte sich über den Jungen. Er fühlte seinen Puls und prüfte die Pupillen. »Ziehen Sie mal da an der Klingelschnur«, sagte er zu Samantha.
Sie drehte sich um. Der Klingelzug hing in der Ecke. Sie zog einmal kurz. {107} Wenig später öffnete eine ältere Frau im braunen Kleid die Tür zum Behandlungszimmer. »Ja, Dr. Masefield?«
»Mrs. Wiggen, würden Sie bitte den jungen Horowitz zum St. Brigid’s schicken, damit er einen Krankenwagen holt. Und dann kochen Sie uns bitte einen Tee.« Er richtete sich auf und sah Samantha an. »Ich denke, der Junge wird wieder ganz gesund werden«, bemerkte der Arzt. »Diese Radfahrer sind eine Gefahr im Verkehr.«
Samantha wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie starrte stumm auf den immer noch bewußtlosen jungen Mann.
Der Arzt ging zum Becken und wusch sich die Hände. »Er kann von Glück sagen, daß Sie zur Stelle waren«, meinte er, ihr den Rücken zuwendend. »Sie haben gute Arbeit geleistet. Darf ich fragen, wo Sie ausgebildet worden sind?«
Samantha trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Äh – ich …«
Er drehte sich um. »Ach, verzeihen Sie vielmals. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Joshua Masefield.«
Sie kam sich lächerlich vor, wie sie da in der blutbespritzten Schürze vor ihm stand, das Haar zerzaust, das Hütchen schief auf dem Kopf. »Samantha Hargrave.«
Er lächelte nicht, sondern sah sie mit seinen dunklen Augen nur ernst an.
Samantha fummelte mit den Bändern ihrer Schürze. »Die ist jetzt leider ganz schmutzig.«
»Das macht doch nichts. Mrs. Wiggen wäscht sie wieder. Ich glaube, Ihnen täte es gut, wenn Sie sich jetzt mal ein Weilchen setzen könnten.«
Sie folgte ihm in den Salon, der gemütlich eingerichtet war. Sie setzte sich auf das burgunderrote Plüschsofa, während er stehen blieb. Als sie den Kopf senkte, entdeckte sie einen großen Blutfleck auf ihrem Rock.
»Das wäscht Mrs. Wiggen Ihnen aus«, sagte Dr. Masefield, an den Kaminsims gelehnt.
»Nein, nein«, erwiderte sie hastig. »Das kann ich doch selber.«
»Unsinn. Mrs. Wiggen ist solchen Kummer gewöhnt. Sie wollen doch nicht so auf die Straße gehen.«
Samantha sagte nichts. Die Sprechhemmung, die sie überwunden geglaubt hatte, war unversehens zurückgekehrt.
»Sie kommen aus England, nicht wahr?«
»Ja.«
{108} »Wie lange sind Sie schon hier?«
»Zehn Tage.«
»Dann haben Sie drüben Ihre Ausbildung gemacht. In London?«
Samantha konnte ihre quälende Schüchternheit nicht überwinden. Verärgert über sich selbst, sagte sie, ohne aufzublicken: »Was meinen Sie mit Ausbildung, Sir?«
»Wo haben Sie Medizin
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