Sturmjahre
die schönste Frau, die sie je gesehen hatte. Das lange honigblonde Haar fiel in schweren Locken auf das Satinkissen, schien um ihren Kopf zu schwimmen wie flüssiges Gold. Das fein gezeichnete Gesicht war sehr weiß, nur die schmalen Wangen glühten in fiebriger Röte. Als sie einmal die von hellen Wimpern umkränzten Lider hob, sah Samantha, daß die Augen von einem tiefen Veilchenblau waren.
Joshua Masefield hielt das zerbrechlich schmale Handgelenk in seinen Fingern. »Sie hat hohes Fieber. Auf keinen Fall darf die Temperatur weiter {118} steigen. Überprüfen Sie sie bitte immer wieder mit dem Thermometer hier.«
Er nahm das etwa fünfundzwanzig Zentimeter lange Metallthermometer vom Nachttisch und zeigte es ihr.
»Sie ist im Delirium«, fuhr er fort, »aber sie hat immer wieder klare Momente. Sagen Sie ihr dann, wer Sie sind – sie weiß bereits von Ihnen –, und daß ich zu einer Entbindung mußte. Wenn die Temperatur steigen sollte, waschen Sie sie von Kopf bis Fuß mit Alkohol.« Er wies auf die Flasche auf dem Nachttisch. »Reiben Sie sie solange immer wieder ab, bis die Temperatur fällt. Ich komme so bald wie möglich zurück.«
Schon im Begriff zu gehen, hielt er noch einmal inne. »Meine Frau hat Leukämie, Miss Hargrave. Ihr Blut ist so dünn, daß sie ständig von Infektionen bedroht ist, die, wenn sie nicht aufgehalten werden, leicht zur Lungenentzündung führen. Sie hat bereits mehrmals Lungenentzündung gehabt und hat mittlerweile so viele Verwachsungen an Pleura und Perikard, daß sie ständig Schmerzen hat. Atmung und Durchblutung sind so schlecht, daß die geringste Anstrengung sie völlig erschöpft. Bitte lassen Sie sie keinen Augenblick allein. Wenn Sie aus irgend einem Grund das Zimmer verlassen müssen, dann läuten Sie Mrs. Wiggen.«
Mit abrupter Bewegung drehte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort oder einen Blick zu der Frau im Bett hinaus.
Samantha hatte sich gerade einen Sessel ans Bett gezogen, als es leise klopfte. Mrs. Wiggen trat ins Zimmer und fragte flüsternd: »Wie geht es ihr?«
»Sie schläft.«
Die Haushälterin trat ans Bett. Ihr sonst so kontrolliertes Gesicht wurde weich. »Der arme Mann, als hätte er nicht mit seiner Praxis schon genug Sorgen.« Sie sah Samantha mit einem mitleidigen Lächeln an. »Ich habe gestern die ganze Nacht bei ihr gewacht. Deshalb hat er heute wahrscheinlich Sie gerufen; er wollte mich schlafen lassen. Aber wie kann ich schlafen, wenn mein Engel hier liegt und leidet? Sie können wieder zu Bett gehen, Miss Hargrave. Ich kümmere mich jetzt um sie.«
»Dr. Masefield hat mich ausdrücklich gebeten zu bleiben, Mrs. Wiggen, und ich habe ihm versprochen, nicht von ihrer Seite zu weichen.«
Die kleinen Augen der Haushälterin blitzten zornig auf, und der verkniffene Mund zuckte. Dann gab sie nach. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich mache uns eine Kanne Tee. Es wird sicher eine lange Nacht.«
Als Mrs. Wiggen wieder gegangen war, maß Samantha die Temperatur ihrer Patientin und stellte mit Erleichterung fest, daß sie etwas gefallen war. Sie rutschte auf die Kante ihres Sessels und musterte das schöne {119} Gesicht, das im Schlaf einen kindlichen Zug hatte. Estelle Masefield konnte noch keine dreißig Jahre alt sein.
Mrs. Wiggen kam mit Tee und Keksen aus der Küche und stellte alles auf einen niedrigen, mit Elfenbein eingelegten Tisch am Kamin. »Kommen Sie, Miss Hargrave, Sie brauchen nicht die ganze Zeit direkt am Bett zu sitzen.«
Zögernd gesellte sich Samantha zu ihr, drehte aber ihren Sessel so, daß sie Estelle Masefield im Auge behalten konnte.
Mrs. Wiggen schenkte Tee ein. »Tragisch«, sagte sie.
»Ist sie schon lange krank?«
»Nein, Anfang des Jahres fing es an. Sie ist erst achtundzwanzig. Zuerst wußten sie nicht, was es ist. Nach jeder kleinen körperlichen Anstrengung bekam sie Schwächeanfälle. Dann wurde sie mehrmals ohnmächtig. Wir glaubten alle, sie wäre guter Hoffnung. Ach, wäre das schön gewesen. Die beiden wünschten sich unbedingt Kinder. Sie sind erst seit drei Jahren verheiratet, wissen Sie. Aber dann hat man die Knoten an ihrem Hals entdeckt, und Dr. Washington hat mit seinem Mikroskop irgendwelche neumodischen Untersuchungen gemacht. Er hat ihr Blut abgenommen und hat es genau inspiziert. Ich versteh’ das ja nicht so gut wie Dr. Masefield, aber es scheint, daß irgendwas mit ihrem Blut nicht in Ordnung ist.«
Mrs. Wiggen seufzte. »Kurz danach beschloß Dr. Masefield dann, mit ihr nach
Weitere Kostenlose Bücher