Sturmjahre
sie.
Er hob den Kopf und sah sie einen Moment lang schweigend an. Dann sagte er sehr müde: »Gehen Sie zu Bett, Miss Hargrave. Sie brauchen Ihren Schlaf.«
Aber Samantha konnte nicht schlafen. Sie starrte an die dunkle Zimmerdecke und dachte an Joshua Masefield und das glanzvolle Leben, die hervorragende Karriere, die er um seiner Frau willen aufgegeben hatte. Aber da stimmte etwas nicht. Das Leiden seiner Frau konnte nicht der einzige Grund für die Flucht in dieses Einsiedlerleben sein. Samantha war überzeugt, daß es da noch etwas anderes geben mußte. Sie hatte den deutlichen Eindruck, daß das Leiden seiner Frau Joshua Masefield nur als Vorwand diente, sich von der Welt zurückzuziehen.
7
Ein schwüler Sommer wälzte sich über New York hinweg. In der Bowery gab es mehrmals gewaltsame Unruhen, und in den Elendsvierteln griff ein seuchenartiges Fieber um sich, dem nicht beizukommen war. Randalierer und Gaunerbanden hielten die Polizei auf Trab, und in Joshua Masefields Praxis gab es mehr denn je zu tun.
Samantha lernte jeden Tag etwas Neues, beobachtete, nahm auf, memorierte. Joshua erklärte und zeigte ihr die richtige Verwendung seiner zahlreichen Instrumente: Skalpelle, Knochensägen, Hohlnadeln und chirurgische Nadeln, Pipetten und Pinzetten aller Größen, Katheter, Spekula und Zangen. Nichts fehlte in seiner Praxis.
Ebenso beeindruckend war seine Apotheke. Samantha las die Etiketten – {122} einige Namen waren ihr aus den Jahren bei Isaiah Hawksbill bekannt – und versuchte sich Verwendungszweck und richtige Dosierung jedes einzelnen Mittels einzuprägen: Pulver in den verschiedensten Farben, rote und blaue Flüssigkeiten, Pasten und Pillen, Salben und Gelees. Borde voller Flaschen und Dosen. Joshua Masefields Medikamentenschrank war so gut bestückt, daß er selten ein Rezept ausschreiben mußte.
In Anbetracht der ständig steigenden Patientenzahl mußte Samantha ihren Status als passive Beobachterin bald aufgeben. Wenn Joshua die Patienten untersucht hatte, mußte sie nun den Verband wechseln oder die Kompressen auflegen oder das schmerzstillende Mittel verabreichen, während er sich bereits dem nächsten Patienten widmete. Jeder Tag brachte neue Hektik, selten blieb Zeit für die Mittagspause.
Erst abends wurde es still im Haus. Samantha zog sich dann auf ihr Zimmer zurück und las, oder aber sie hielt Wache bei Estelle Masefield, während Joshua sich in sein Arbeitszimmer einsperrte oder späte Hausbesuche machte. Sogar sonntags kamen in diesem heißen Sommer Patienten in die Praxis, doch Joshua bestand darauf, daß Samantha sich diesen Tag weiterhin freinahm.
Sie machte Louisa mit Luther Arndt bekannt, dem netten jungen Mann, der die wöchentlichen Lieferungen von DeWinters Drugstore brachte, und zu dritt begaben sie sich nun sonntags auf Erkundungsfahrten durch New York. Bald kannte Samantha Manhattan so gut wie jede Einheimische.
Doch bei all diesen Untersuchungen spukte Samantha fast unaufhörlich Joshua Masefield im Kopf herum.
DeWinters Drugstore war ein Laden, wie Samantha früher nie einen gesehen hatte. Im Gegensatz zu den Drogerien und Apotheken in England hatte er hinter blitzenden Glasfenstern große Auslagen, wo Bruchbänder und Pessare ausgestellt waren, Dr. Scotts echte Elektrogürtel, Korsetts und Gymnastikgeräte aller Art zur Muskelbildung und zur Vergrößerung des Busens. Drinnen reihten sich auf hohen Regalen und in Glasvitrinen Flaschen mit Patentmedizinen und Elixieren, mit allen möglichen Wässerchen, Pulvern und Salben, Allheilmitteln, deren Etiketten das Unmögliche versprachen. Hinter der Theke waren Toilettenwasser und Puder, Konfekt und Grußkarten. Und an der Wand stand die neueste Errungenschaft: der große Sprudelwassersiphon.
Nachdem Luther seine beiden Freundinnen zu einem der kleinen Tische gebracht hatte, die Mr. DeWinter in der sogenannten Erfrischungshalle aufgestellt hatte, ging er zum Siphon, der auf der Marmorplatte der {123} Theke stand, und zapfte drei Gläser braunes Sprudelwasser. Es war ein ganz neues Getränk, das aus Kohlensäure und Kokasaft bestand. Viele Leute tranken es zur Beruhigung der Nerven.
Wenn sich Luther dann zu ihnen setzte, klatschte er recht gern über die Kunden des Ladens.
»Seht, das ist Mrs. Bowditch«, vertraute Luther seinen Freundinnen an, »sie ist die Bezirksvorsitzende des Abstinenzvereins hier. Sie behauptet, daß sie Bowkers Magenbitter nur gegen ihre Verdauungsbeschwerden trinkt. Pünktlich jeden Morgen
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