Sturmklänge - Sanderson, B: Sturmklänge - Warbreaker
Wochen verhungern, die sie benötigen, um Nahrung aus den Lagern des Königs nach Hause zu bringen… falls sie überhaupt erfolgreich sind? Oder sollen sie lieber die viel kürzere Strecke nach T’Telir zurücklegen und hier Arbeit am Hafen oder als Blumenernter auf den Urwaldplantagen annehmen? Das ist harte, aber sichere Arbeit.«
Und so verraten sie ihr eigenes Volk.
Durfte sie darüber richten? Die Fünfte Vision sah ein solches Verhalten als Überheblichkeit an. Sie saß hier im kühlen Schatten eines Vorzeltes und genoss die angenehme Brise sowie einen teuren Fruchtsaft, während andere Menschen Sklavendienste verrichten mussten, um ihre Familien zu unterhalten. Sie hatte kein Recht, ein Urteil über ihre Beweggründe zu fällen.
Kein Idrier sollte gezwungen sein, in Hallandren nach Arbeit zu suchen. Sie gab nicht gern zu, dass ihr Vater etwas falsch machte, aber sein Königreich war in bürokratischer Hinsicht nicht sehr gut geführt. Es bestand aus Dutzenden verstreuter Ortschaften mit schlechten Straßen, die überdies oft durch Bergrutsche oder Lawinen blockiert waren. Außerdem war er gezwungen, einen großen Teil des Geldes in die Armee zu stecken, weil er einen Angriff aus Hallandren befürchtete.
Er hatte eine schwierige Aufgabe übernommen. War das eine ausreichende Entschuldigung für die Armut jener Untertanen, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen? Je mehr sie zuhörte und erfuhr, desto deutlicher erkannte sie, dass viele Idrier das idyllische Leben, das Vivenna in ihrem geliebten Bergtal geführt hatte, nie gekannt hatten.
» Das Treffen findet in drei Tagen statt, Herrin«, sagte Zham. » Einige dieser Männer sind nach Vahrs Niederlage zögerlich geworden, aber sie werden Euch zuhören.«
» Ich werde dort sein.«
» Danke.« Zham erhob sich, verneigte sich vor ihr, obwohl sie ihn gebeten hatte, nichts zu tun, was die Aufmerksamkeit auf sie lenken konnte, und zog sich zurück.
Vivenna blieb sitzen und nippte an ihrem Fruchtsaft. Sie spürte Denth, bevor er da war. » Wisst Ihr, was mich interessiert?«, fragte er und nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem zuvor Zham gesessen hatte.
» Was?«
» Menschen«, antwortete er, tippte mit dem Finger gegen einen leeren Becher und holte damit den Kellner wieder an den Tisch. » Menschen interessieren mich. Vor allem diejenigen, die nicht so handeln, wie sie es eigentlich sollten. Menschen, die mich überraschen.«
» Ich hoffe, du redest nicht von Zham«, sagte Vivenna und hob eine Braue.
Denth schüttelte den Kopf. » Ich rede von Euch, Prinzessin. Es ist noch gar nicht lange her, dass andauernd ein stilles Missfallen in Eurem Blick lag, egal wen oder was Ihr angesehen habt. Jetzt habt Ihr ihn verloren. Allmählich passt Ihr Euch an.«
» Und genau das ist das Problem, Denth«, entgegnete Vivenna. » Ich will mich nicht anpassen. Ich hasse Hallandren.«
» Den Fruchtsaft scheint Ihr aber zu mögen.«
Vivenna stellte den Becher ab. » Du hast natürlich Recht. Ich sollte ihn nicht trinken.«
» Wenn Ihr meint«, sagte Denth und zuckte die Achseln. » Also, wenn Ihr den Söldner fragt– was natürlich niemand tut–, dann würde er Euch sagen, dass es gut ist, wenn ihr Euch wie eine Hallandrenerin benehmt. Je weniger auffällig Ihr seid, desto weniger werden die Leute Euch mit dieser idrischen Prinzessin in Verbindung bringen, die sich in der Stadt versteckt hält. Nehmt zum Beispiel Euren Freund Parlin.«
» In diesen hellen Farben sieht er aus wie ein Narr«, sagte sie und warf einen Blick zur anderen Straßenseite, wo er und Juwelchen miteinander schwatzten, während sie den Fluchtweg im Auge behielten.
» Wirklich?«, fragte Denth. » Oder sieht er nur wie ein Hallandrener aus? Was wäre, wenn er sich im Urwald befände und ein Fell überstreifen würde– oder wenn er sich in einen Umhang hüllen würde, der die Farbe von gefallenen Blättern hat?«
Sie sah wieder hinüber. Parlin lehnte gegen eine Mauer– genauso wie die Halbstarken, die sie überall in der Stadt gesehen hatte.
» Ihr beiden passt inzwischen viel besser in diese Stadt als zu Anfang«, sagte Denth. » Ihr lernt.«
Vivenna senkte den Blick. Einiges an ihrem neuen Leben fühlte sich inzwischen tatsächlich natürlich an. Zum Beispiel wurden die Überfälle immer einfacher. Außerdem gewöhnte sie sich daran, sich im Einklang mit der Menge zu bewegen und Teil des Untergrunds zu sein. Noch vor zwei Monaten hätte sie sich geweigert, mit einem Mann wie Denth
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