Sturmklänge - Sanderson, B: Sturmklänge - Warbreaker
Fingern hin und her. » Ein Stück«, wiederholte er.
» Bitte«, flüsterte Vivenna. Sie standen am Eingang einer Gasse vor der Rückseite zweier Speiselokale. Sie sah, wie die Straßenkinder im Abfall wühlten. Im frischen Abfall von gleich zwei Lokalen. Ihr lief das Wasser im Munde zusammen.
» Es fällt mir schwer zu glauben, Mädchen«, sagte er, » dass das hier alles ist, was du heute eingenommen hast.«
» Bitte, Cads«, sagte sie wieder. » Du weißt doch… du weißt doch, dass ich keine gute Bettlerin bin.«
» Du solltest dich anstrengen«, sagte er. » Sogar die Kinder bringen mir mindestens zwei.«
Hinter ihm schmausten die Glücklichen, die ihn zufriedengestellt hatten. Es roch so gut. Oder kam der Duft aus den Lokalen?
» Ich habe schon seit Tagen nichts mehr gegessen«, flüsterte sie und blinzelte den Regen weg.
» Dann mach es morgen besser«, sagte er und scheuchte sie fort.
» Meine Münze…«
Sofort winkte Cads nach seinen Schlägern, als sie ihm die Hände entgegenstreckte. Reflexartig wich Vivenna zurück und stolperte.
» Morgen bringst du mir zwei«, sagte Cads und ging in die Gasse hinein. » Ich muss schließlich die Eigentümer der Lokale bezahlen. Da kann ich dich nicht kostenlos essen lassen.«
Vivenna stand auf und starrte ihn an. Nicht weil sie glaubte, sie könnte ihn umstimmen, sondern weil sie Schwierigkeiten hatte, es zu begreifen. Es war für heute ihre letzte Gelegenheit, etwas zu essen zu bekommen. Ein Geldstück würde ihr anderswo nur einen Happen verschaffen, aber hier hatte sie sich– beim letzten Mal zumindest– dafür satt essen dürfen.
Doch das war eine Woche her. Wie lange lebte sie nun schon auf der Straße?
Sie wusste es nicht. Benommen drehte sie sich um und zog den Schal enger um sich. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt. Vivenna sollte noch ein wenig betteln gehen.
Sie konnte es nicht. Nicht nachdem sie das Geldstück verloren hatte. Sie fühlte sich in ihren innersten Grundfesten erschüttert– als ob ihr das Wertvollste gestohlen worden wäre, das ihr je gehört hatte.
Nein. Nein. Das besaß sie noch. Sie zog den Schal enger um sich.
Warum war er so wichtig? Es bereitete ihr Schwierigkeiten, sich daran zu erinnern.
Ein Teil von ihr begriff, dass sie sich nicht so fern von der Person fühlen sollte, die sie einmal gewesen war. Sie war eine Prinzessin, oder? Aber in letzter Zeit fühlte sie sich so elend, dass sie glaubte, nicht einmal mehr den Hunger zu spüren. Es war alles so falsch. So völlig, völlig falsch.
Sie begab sich wieder in das Armenviertel und schlich mit gesenktem Kopf und gebeugtem Rücken dahin, damit niemand Anstoß an ihr nahm. Als sie aber an einer bestimmten Straße vorbeikam, die zu ihrer Rechten abzweigte, zögerte sie. Hier warteten die Huren, die durch ein vorspringendes Dach vor dem Nieselregen geschützt waren.
Vivenna starrte sie an, stand da in ihrer alles enthüllenden Kleidung. Hier war es für Fremde nicht sehr gefährlich. Niemand würde einen Mann ausrauben, der auf dem Weg zu den Huren war. Die Bandenführer mochten es nicht, wenn ihre Kunden verscheucht wurden. Schlecht fürs Geschäft, wie Denth es ausdrücken würde.
Lange stand Vivenna da. Die Huren wirkten wohlgenährt. Sie waren nicht schmutzig. Einige von ihnen lachten sogar. Sie konnte sich zu ihnen gesellen. Ein Straßenbengel hatte vor ein paar Tagen davon gesprochen und ihr gesagt, sie sei ja noch sehr jung. Er hatte gewollt, dass sie mit ihm zu seinem Herrn ging, und gehofft, er bekomme ein paar Münzen für das Rekrutieren eines willigen Mädchens.
Es war so verlockend. Essen. Wärme. Ein trockenes Bett.
Gesegneter Austre, dachte sie und schüttelte sich. Was denke ich da? Was stimmt mit meinem Kopf nicht mehr? Es fiel ihr so schwer, sich zu konzentrieren. Es war, als befände sie sich die ganze Zeit über in einer Art Trance.
Sie zwang sich weiterzugehen und taumelte von den Frauen weg. Das würde sie nicht tun.
Noch nicht.
O Herr der Farben, dachte sie entsetzt. Ich muss aus dieser Stadt herauskommen. Es ist besser, wenn ich auf der Straße nach Idris verhungere – oder von Denth geschnappt und gefoltert werden –, als im Bordell zu enden.
Doch genauso, wie sie das Stehlen nicht länger verurteilte, hielt sie es nicht mehr für so sträflich, ihren Körper zu verkaufen, als ihr Hunger immer drängender wurde. Sie begab sich zur letzten Gasse. Aus den anderen war sie hinausgeworfen worden. Aber diese hier war gut. Sie war
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