Sturmklänge - Sanderson, B: Sturmklänge - Warbreaker
allmählich wieder seine kastanienbraune Farbe angenommen hatte– wurde auf einen Schlag abermals weiß. Der Mann hatte Recht. Unter ihren farbenprächtigen Uniformen zeigten die Hallandrener-Truppen nichts als ein mattes Grau. Ihre Augen, ihre Haut, sogar ihr Haar– alles war völlig farblos.
Es können keine Leblosen sein!, dachte sie. Sie sehen doch wie Menschen aus!
Sie hatte sich die Leblosen immer als skelettartige Geschöpfe vorgestellt, deren Fleisch verweste und von den Knochen fiel. Es handelte sich schließlich um Menschen, die gestorben und als hirnlose Soldaten zurück ins Leben gerufen worden waren. Aber diejenigen, an denen Siri nun vorbeikam, sahen so menschlich aus. Die einzigen Unterschiede waren die fehlende Farbe und der starre Ausdruck ihrer Gesichter. Das und die Tatsache, dass sie unnatürlich reglos dastanden. Sie traten nicht von einem Bein auf das andere, sie atmeten nicht, kein Muskel oder Glied zuckte. Sogar ihre Augen bewegten sich nicht. Sie wirkten wie Statuen, vor allem wegen ihrer grauen Haut.
Und … ich werde eines dieser Wesen heiraten?, dachte Siri. Aber nein, die Zurückgekehrten waren anders als die Leblosen, und beide unterschieden sich von den Farblosen– das waren diejenigen, die ihren Hauch verloren hatten. Undeutlich erinnerte sie sich daran, wie einmal jemand aus ihrem Dorf zurückgekehrt war. Es lag beinahe zehn Jahre zurück, und ihr Vater hatte es nicht erlaubt, dass sie den Mann besuchte. Er konnte sprechen und mit seiner Familie zusammenleben, auch wenn er keine Erinnerung an sie besaß.
Eine Woche später war er gestorben.
Nun fuhr ihre Kutsche durch das Spalier der Leblosen. Sie näherte sich der Stadtmauer, die gewaltig und einschüchternd war, aber eher wie ein Kunstwerk, nicht wie eine richtige Befestigung wirkte. Die Mauerkrone war in massigen Halbkreisen abgerundet, die wie sich wellende Hügel wirkten, und der Rand war mit einem goldfarbenen Metall geplättet. Die Tore hatten die Form zweier gewundener, geschmeidiger Meeresgeschöpfe, die sich innerhalb eines gewaltigen Bogens in die Höhe schwangen. Siri fuhr zwischen ihnen hindurch, und die hallandrische Kavalleriegarde– die aus lebendigen Menschen zu bestehen schien– begleitete sie.
Sie hatte sich Hallandren immer als einen Ort des Todes vorgestellt. Ihre Phantasien gründeten sich auf Geschichten, die von Reisenden oder von alten Frauen am winterlichen Herd erzählt wurden. Sie sprachen davon, dass die Stadtmauern aus Schädeln erbaut und nachlässig mit hässlichen Farben bemalt seien. Sie hatte sich vorgestellt, dass die Gebäude dahinter mit verschiedenen, sich beißenden Farben getüncht wären. Obszön.
Sie hatte sich geirrt. Ja, T’Telir hatte etwas Anmaßendes an sich. Jedes neue Wunder schien ihre Aufmerksamkeit erregen zu wollen. Menschen säumten die Straße– mehr Menschen, als Siri in ihrem ganzen bisherigen Leben gesehen hatte– und drängten sich zusammen, um einen Blick auf ihre Kutsche zu erhaschen. Falls es Arme unter ihnen gab, so fielen sie Siri nicht auf, denn sie alle trugen Kleidung aus kräftigen Farben. Manche waren etwas übertriebener gewandet als andere– vermutlich handelte es sich um Kaufleute, denn angeblich besaß Hallandren außer seinen Göttern keinen Adel–, aber selbst die einfachsten Stoffe zeigten eine fröhliche Helligkeit.
Viele der getünchten Gebäude harmonierten nicht miteinander, aber keines von ihnen war schäbig. Von den Fassaden der Läden über die Menschen bis hin zu den Statuen der mächtigen Soldaten, die an vielen Straßenecken standen, zeugte alles von einem tiefen Verständnis für Kunst und ausgezeichnetes Handwerk. Es war entsetzlich überwältigend. Protzig. Aber es war ein vibrierendes, begeistertes Protzen. Siri bemerkte, dass sie lächelte– ihre Haare wurden wieder zartblond–, auch wenn sie die heraufziehenden Kopfschmerzen spürte.
Vielleicht … vielleicht hat Vater mich deshalb geschickt, dachte Siri. Vivenna hätte nie hierhergepasst, egal wie gut ihre Ausbildung war. Aber ich habe mich immer schon für Farben interessiert.
Ihr Vater war ein guter König mit guten Instinkten. Sollte er nach den zwanzig Jahren von Vivennas Erziehung und Ausbildung zu dem Schluss gekommen sein, dass sie Idris nicht helfen konnte? War das der Grund dafür, dass Vater Siri zum ersten Mal in ihrem Leben Vivenna vorgezogen hatte?
Aber wenn das stimmt, was soll ich dann tun? Sie wusste um die Angst ihres Volkes vor einer hallandrischen
Weitere Kostenlose Bücher