Sturmkönige 02 - Wunschkrieg
über Jibril und seine Herkunft? Warum besaß er all diese Kenntnisse über Ereignisse, die ein halbes Jahrhundert zurücklagen? Und was brachte sie eigentlich dazu, diesem Jungen – der ganz offensichtlich kein Junge war – zu vertrauen?
Nun aber war da mit einem Mal etwas, das ihn weit brennender interessierte. Ganz unvermittelt war die Frage da, und als er sie aussprach, stand sie wie etwas Greifbares zwischen ihnen.
»Hast du Tarik geliebt?«
Sie schwieg lange, ehe sie fast ein wenig verunsichert die Schultern hob. »Wir waren ziemlich jung damals. Und ich… ich habe vergessen, wie es sich angefühlt hat.« Plötzlich klang sie so aufrichtig, dass es ihn schmerzte. »Das ist die Wahrheit, Junis. Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich, was Tarik und ich gemeinsam getan haben, an viele verschwommene Momente, an Erlebnisse, kleine Facetten unserer Zeit zusammen. Aber die Gefühle, die ich dabei hatte, die Gefühle für ihn…« Sie zögerte. »Ich weiß einfach nicht mehr, wie sie sich angefühlt haben.«
»Das klingt traurig.«
Sie zuckte die Achseln. »Wie soll ich um etwas trauern, von dem ich nicht mal mehr weiß, wie es war? Ich kann der Vergangenheit nicht hinterherlaufen, weil es schon schwer genug ist, mit der Gegenwart Schritt zu halten. Und Liebe – oder der Gedanke an Liebe – ist etwas, das dabei nur im Weg stehen würde.«
Ein wenig davon mochte Selbstschutz sein, etwas, mit dem sie sich vor Schwäche bewahren wollte. Aber zugleich hatte er den Eindruck, dass sie ihre Maskerade einen Moment lang abgelegt hatte und ihm einen ehrlichen Blick gewährte auf das, was darunter lag.
»Warum dann all die Männer?«, fragte er.
Gern hätte er sich weisgemacht, dass ihm das einfach so rausgerutscht war. Es war kindisch. Und doch war es etwas, das er mit einem Mal unbedingt wissen musste, weil es an ihm nagte und ihm keine Ruhe mehr ließ.
Sie sah ihn schweigend an, ihre Miene ausdruckslos.
»Erst dachte ich, es wäre nur Mukthir«, sagte er, weil es jetzt keine Rolle mehr spielte. »Aber es sind auch noch andere, die abends in dein Zelt kommen. Da draußen im Lager ist das kein Geheimnis.«
»Andere, so wie du jetzt gerade, meinst du?«
Er schüttelte den Kopf. »Es geht mich nichts an, das weiß ich. Ich will es nur verstehen.«
»Vielleicht mag ich sie alle?« Sie lächelte bitter. »Genug, jedenfalls.«
»Ich glaube, du magst sogar die allerwenigsten von ihnen. Sonst würdest du sie nicht in diese Schlacht führen.« Er musste sich zwingen, ihrem Blick standzuhalten, diesen tiefgrünen Augen, die es ihm schon früher so schwergemacht hatten, in ihrer Gegenwart nicht zu einem stammelnden Narren zu werden. Zumindest das Stammeln hatte er heute im Griff. »Es sind die Träume, nicht wahr?«
Sie schluckte, ein wenig überrumpelt. »Nichts hilft gegen die Träume«, sagte sie. »Damals dachte ich, aus Samarkand fortzugehen würde sie vertreiben. Das Eingesperrtsein in der Stadt, es hätte der Grund dafür sein können… Aber das war es nicht. Wenn ich schlafe, dann kommt es wieder, immer dasselbe Gefühl. Eingekerkert zu sein. Nicht atmen zu können vor Enge. Niemals, niemals wirklich frei zu sein. Erst seit ich Jibril getroffen habe, kenne ich den wahren Grund. Ein paar von uns können es spüren. Dass wir Gefangene sind, eingesperrt in« – sie stieß ein leises Lachen aus, ohne jede Spur von Heiterkeit –, »in einer Flasche. Amaryllis hat es auch gefühlt, und dabei spielt es keine Rolle, dass er ein Dschinn war, sogar einer ihrer Fürsten. Er hat den wahren Grund so wenig gekannt wie ich, aber er hat es gespürt. Und als er mich gefunden hat, bei seinen Wanderungen durch die Wüsten, da hat er erkannt, dass es mir genauso erging wie ihm. Verstehst du, Junis? Wir wussten beide, dass wir Gefangene sind. Nur hatten wir keine Ahnung, wer uns gefangen hält. Oder wo. Und warum. Er glaubte, es hätte mit seinen Visionen zu tun, mit dem Untergang seines Volkes, den er vorausgesehen hat. Und ich… ich dachte, dass der einzige Grund ich selbst sei. Dass ich vielleicht nicht ganz richtig im Kopf bin und mir Dinge einbilde, dass es eine Krankheit ist…« Sie holte tief Luft. »Bis ich von Jibril erfahren habe, was er gestern Nacht auch dir erzählt hat. Da habe ich es plötzlich begriffen und zugleich erkannt, dass es kein Mittel dagegen gibt. Es ist wie ein Fluch, den ich niemals loswerden kann. Wir alle sind eingesperrt, und daran wird sich nichts ändern. Sobald ich allein bin, wird es
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