Sturmkönige 02 - Wunschkrieg
Jemand hatte einen Zugang zur geheimen Unterwelt der Tempelkatakomben geschaffen. Das mochte von unten her geschehen sein, also vom Palast aus. Oder aber von irgendwem an der Oberfläche, und dabei konnte es sich nur um Gesindel handeln, das eine Zuflucht suchte oder Wege, um sich ungesehen unterhalb der Stadt zu bewegen. Bestenfalls ein paar abenteuerlustige Kinder, schlimmstenfalls – und sehr viel wahrscheinlicher – eine Verbrecherbande.
Noch einmal schaute sie sich im Innenraum des Turmes um, diesmal gründlicher. Sie war allein. Die Trümmerhaufen waren nicht hoch genug, als dass sich jemand dahinter hätte verbergen können. Nirgends fand sie eine Tür. Falls überhaupt, lag sie hinter dem Schuttberg begraben, der an einer der vier Wände aufgeschichtet worden war.
Es gab nur ein einziges Fenster, hoch über ihr im oberen Drittel des Turms. Es war groß und halbrund. Gegen den blauen Himmel hoben sich darin zwei fächerförmige Silhouetten aus Stein ab. Zwei Statuen oder ornamentale Verzierungen. Eine lange Holzleiter führte schräg vom Boden des Turms hinauf zu diesem Fenster – der einzige Weg ins Freie.
Es hatte keinen Zweck, sich länger hier unten aufzuhalten, auch wenn sie der Leiter so wenig traute wie diesem Ort. Widerstrebend stieg sie die Sprossen hinauf und erkannte erleichtert, dass der erste Eindruck täuschte: Sie waren stabil genug, um ihr Gewicht – und vielleicht auch das von mehreren Menschen – zu tragen.
Die Helligkeit brannte noch immer in ihren Augen. Womöglich war sie länger in der Finsternis gewesen, als sie bisher geglaubt hatte. Sie fühlte sich wie geläutert. Gereinigt durch Dunkelheit. Sofort kam sie sich vor wie eine arme Irre, halb verrückt vor Einsamkeit, Sorge und Wut. Vor allem vor Wut.
Unterhalb des Fensters verharrte sie auf der Leiter und besah sich die beiden Steinfächer aus der Nähe. Jetzt erkannte sie, dass es zwei stilisierte Pfauen waren, mit weit gespreiztem Schwanzgefieder. Sie saßen auf dem Fenstersims und blickten stumm ins Freie, vielleicht schon seit Jahrhunderten. Der Turm war augenscheinlich Teil des alten Tempels, ganz sicher kein neues Stadtgebäude.
Sabatea schob Stirn und Augen über den Rand des Fensters und lugte vorsichtig nach draußen. Überrascht stellte sie fest, dass sie sich keineswegs drei Stockwerke über dem Erdboden befand, sondern allerhöchstens eines. Der Turm war zu zwei Dritteln im Boden verborgen. Unterhalb des Fensters lag ein enger Innenhof, die Fenster der angrenzenden Häuser waren rußgeschwärzt und leer. Irgendwann musste es dort gebrannt haben. Seither schienen sie unbewohnt zu sein.
Noch etwas bemerkte sie. Erst ein mühsames Stöhnen und Schnaufen, dann eine Wölbung, die sich draußen vor dem Fenster von unten heraufschob. Schweiß glänzte auf schwarzer Haut. Ein rundes Gesicht erschien, mit flacher Nase und einem Ausdruck tiefster Verblüffung, als der Mann und Sabatea einander in die Augen starrten.
Beide keuchten vor Erstaunen auf, er außen vor dem Fenster, sie innen.
Der Schwarze verlor den Halt und verschwand aus ihrem Blickfeld, gefolgt von herzhaften Flüchen. Es schepperte, als er aufprallte und gleich darauf von etwas getroffen wurde – wahrscheinlich der Leiter, die er benutzt hatte. Noch mehr wüste Schimpfworte drangen aus der Tiefe herauf.
Sabatea stand noch immer zwischen den steinernen Pfauen auf den Sprossen. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus dem Schlafgemach war sie ratlos. Zurück nach unten fliehen? Sich aus dem Fenster schwingen und den Augenblick der Überraschung nutzen?
Der Mann am Fuß der Turmspitze brüllte etwas.
Vielleicht noch ein Fluch. Nur ein einzelnes Wort.
»Ifranji!«
Diebesgut
Eine dunkelhäutige Frau – sehr zierlich, fast wie ein Kind – beugte sich schimpfend über den gestürzten Dicken, wurde aber ungeduldig von ihm abgeschüttelt. Sie kam nicht dazu, ihre Wut darüber an ihm auszulassen, denn oben im Fenster entdeckte sie Sabatea.
»Dafür stirbst du!«, fauchte sie zu ihr herauf.
Sabatea hatte sich zwischen den steinernen Pfauen ins Fenster gezogen. Dort hockte sie wie ein dritter Vogel und blickte auf die beiden hinab. Der fette Mann schien ihr kein allzu gefährlicher Gegner zu sein, aber bei dieser Ifranji war sie sich nicht sicher.
Die junge Frau zog einen Dolch.
Zum Glück war der Dicke mitsamt der Leiter umgestürzt. Sabatea befand sich gut drei Schritt über dem Boden, außerhalb von Ifranjis Reichweite – solange die nicht auf
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