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Sturmkönige 02 - Wunschkrieg

Sturmkönige 02 - Wunschkrieg

Titel: Sturmkönige 02 - Wunschkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und Kleidung, wechselten blitzartig ihren Standort.
    Schließlich öffnete Tarik beide Augen zugleich. Die Bilder überlappten sich. Dadurch wurden die Unterschiede noch auffälliger. Vor allen Dingen einer machte ihn stutzig: Mit Amaryllis’ Auge sah er keine fliegenden Teppiche am Himmel. Keine Reiter der Falkengarde mit ihren fauchenden Fackeln. Die Dunkelheit über der Stadt war wie leergefegt. Erst als er mit rechts hinsah, war der Abendhimmel wieder erfüllt von umherschwirrenden Lichtpunkten.
    Durchatmen, ganz langsam. Er war erleichtert, trotz allem. Im Dunkeln verursachte ihm das Sehen mit dem fremden Auge keine Schmerzen, abgesehen von einem leichten Brennen, wenn er in ein erleuchtetes Fenster oder auf die Fackel eines Fuhrwerks blickte. Er hatte Schlimmeres erwartet. Nicht nur den Schmerz, sondern eine Welt in Trümmern, ein alptraumhaftes Ödland, das sich bis zum Horizont erstreckte. Etwas, das den Schlüssel barg zu dem Krieg, der seit einem halben Jahrhundert tobte. Eine Erklärung für die Massaker in Buchara und anderswo, für die Sklavenpferche und Leichenmonumente. Für das Heer aus der Salzwüste und die anderen Dschinnarmeen, die der Stadt den Todesstoß versetzen wollten.
    Stattdessen sah er hier wie dort ein Bagdad voller Menschen.
    Aber bedeutete das zugleich eine Welt ohne Dschinne, wie Amaryllis behauptet hatte? Darauf würde er erst eine Antwort finden, wenn er mit seinem rechten Auge die Heere ihrer Feinde vor den Stadtmauern erblickte. Und mit links – womöglich gar nichts?
    Er sank mit dem Rücken aufs Dach und streckte die Beine aus. Die staubige Oberfläche war noch immer aufgewärmt von der Hitze des Tages, aber gegen die Kälte in seinem Inneren kam sie nicht an. Der Nachthimmel drückte schwarz auf ihn nieder. Mit bebenden Fingern schob er die Lederklappe zurück über das linke Auge. Ihm war übel, er fror.
    Da war noch etwas.
    Wenn die Fähigkeit, die andere Welt zu sehen, tatsächlich die Ursache für den Krieg der Dschinne gegen die Menschen war… wenn Amaryllis nicht nur ein Prophet, sondern der Auslöser millionenfachen Mordens gewesen war… was machte das aus Tarik? Dann hätte Amaryllis nicht nur sein bizarres Talent der Hellseherei auf ihn übertragen, sondern ein Vermächtnis, das ungleich schrecklicher war.
    Du sollst es auch sehen, hatte er gesagt, bevor Tarik ihn in die Flammen des zerstörten Rochnests geschleudert hatte.
    Du sollst es auch sehen.
    Was genau war Amaryllis für die Dschinne gewesen?
    Nur einer ihrer Fürsten, der eine ungewöhnliche Begabung besaß? Oder der Führer ihres Feldzugs gegen die Menschheit – ein wahnsinniger Messias, der sein Erbe ausgerechnet an einen Menschen weitergegeben hatte?
     

     
    Ein heftiger Windstoß peitschte über das Dach, dann klapperten Hufe. Tarik schrak auf.
    Als er herumfuhr, sah er, wie ein Elfenbeinpferd seine mächtigen Schwingen anlegte. Eine einzelne weiße Feder wurde vom Wind herübergetrieben, tanzte gewichtslos über das Dach und blieb an Tariks Schienbein haften. Wie im Traum bückte er sich und griff mit Daumen und Zeigefinger nach dem Federkiel. Dann schaute er wieder hinüber zu dem weißen Zauberpferd.
    Es stand da und blickte ihn an, aus großen braunen Augen.
    Es hieß, ein Magier hätte die Elfenbeinrösser einst für den Sultan von Basra erschaffen. Mechanische Wesen, die durch Zauberei zum Leben erweckt worden waren. Ihre Körper waren schmal und filigran, dabei aber höher als gewöhnliche Pferde, mit langen, dünnen Beinen. Geschöpfe, wie sie ein Bildhauer ersonnen hätte, idealisiert, fast geisterhaft. An ihren Gelenken waren Eisenstifte und Gewinde zu erkennen, und die Laute, die sie von sich gaben, ähnelten weniger einem Wiehern als dem Gurren einer Taube, durchmischt mit leisem Surren und Klacken, wenn Zahnräder, Federn und Scharniere im Inneren die Aufgaben von Organen und Muskeln erfüllten.
    Das Pferd stand mit angelegten Schwingen am gegenüberliegenden Ende des Flachdachs, keine zehn Meter von Tarik entfernt. Es hatte die Ohren aufgerichtet. Einer seiner Vorderhufe scharrte langsam über den Boden. Wind spielte in der langen Mähne und dem Schweif, bürstete die Federn der Flügel gegen den Strich – ein feines, raschelndes Flüstern.
    Die großen Augen blieben auf Tarik gerichtet.
    »Du warst das«, sagte er leise. »Du hast mir da oben am Himmel geholfen, als die Garde mich gejagt hat.« Es hätte auch ein anderes Elfenbeinpferd sein können, eines, das vielleicht öfter

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