Sturmsegel
Mädchen beachtete niemand, doch sobald Samt und Seide auf ihrer Haut waren, fiel sie auf wie ein schwarzer Schwan oder eine zweiköpfige Katze. Besonders, wenn sie allein durch die Straßen lief. Feine Damen wurden für gewöhnlich immer von einem Kavalier begleitet. Doch sie war keine feine Dame! Sie war noch immer Anneke, auch wenn sie in einem teuren Gewand steckte.
Allerdings musste sie einsehen, dass sie mit ihrer Vermutung recht gehabt hatte. Das Laufen fiel schwerer als in ihrem alten Kleid. Immer wieder musste sie zwischendurch anhalten. Richtig durchatmen konnte sie nicht, und so musste sie versuchen, in kleinen Atemzügen die Luft wieder in ihre Lungen fließen zu lassen.
Trotzdem blitzten immer wieder Sterne vor ihren Augen auf und einmal wurde ihr sogar so schwindelig, dass sie sich an einer Wand abstützen musste.
Einige Leute blickten sie besorgt an, doch sie wagten glücklicherweise nicht, sie anzusprechen. Am liebsten hätte sie sich die Schnürbrust vom Leib gerissen!
Unterwegs hielt sie Ausschau nach Marte, denn es war möglich, dass sie ebenfalls gerade auf dem Weg zum Strand war.
Leider konnte sie sie aber nirgends entdecken. Annekes Füße trugen sie über den Knieperdamm, dann am Wald vorbei, bis sie das Rauschen der Ostsee vernehmen konnte.
Die Stelle, an der sie sich normalerweise mit Marte traf, war verlassen. Nur das Meer rauschte eintönig vor sich hin. Der Sturm hatte weitere Muscheln ans Ufer gespült. Sie lagen unter dem Treibholz, einige waren sogar noch lebendig.
Sie hatte gerade mit dem Fuß ein paar Kreise in den Sand gezeichnet, als hinter ihr jemand rief: »He, was suchst du hier?«
Anneke wirbelte herum. Da stand Marte. Offenbar erkannte sie sie nicht in ihren neuen Gewändern. Sie musterte das Kleid, dann wanderte ihr Blick nach oben. Erst jetzt bemerkte sie, um wen es sich bei dem vornehm gekleideten Mädchen handelte.
»Anneke?«, fragte sie und kam vorsichtig näher.
»Ja, die bin ich! Sag bloß, du erkennst mich nicht mehr.«
Die letzten Schritte rannte Marte und bei Anneke angekommen schloss sie ihre Freundin in die Arme.
»In dem Kleid ist es schwierig, dich zu erkennen«, entgegnete sie, und als sie sich wieder aus der Umarmung gelöst hatte, strich sie sogleich begehrlich über den Stoff. »Was für ein schönes Kleid! Hast du das von deinem Vater?«
Anneke nickte. »Ja, und ich habe eine eigene Kammer bekommen. Und ein Kindermädchen, das mir Benehmen beibringen soll.«
»Als ob du dich noch nicht benehmen könntest!«, spottete Marte und setzte zu einem unbeholfenen Knicks an.
»Das kann ich wohl, aber nicht wie eine feine Dame«, hielt Anneke dagegen. »Ich fürchte allerdings, dass das ziemlich anstrengend wird. Allein die Schnürbrust ist schon furchtbar unbequem.«
Eine kurze Pause entstand, während der Marte nicht die Augen von ihrem Kleid ließ.
»Du wolltest dich doch wegen des Kaufmanns umhören«, fragte Anneke schließlich und beobachtete, dass ein zweiflerischer Ausdruck auf das Gesicht ihrer Freundin schlich.
»Was ist?«, hakte sie nach, während sie ein ungutes Gefühl beschlich.
»Nun, ich habe meinen Vater mal nach dem Kaufmann gefragt«, erklärte ihre Freundin. »Ich glaube, du solltest aufpassen, dass er dich nicht an die Kaiserlichen verkauft. Mein Vater hat erzählt, dass sie blutjunge Dinger in ihrem Tross haben, die den Söldnern zu Willen sind.«
»Was dein Vater erzählt!«, entgegnete Anneke und winkte ab. Wahrscheinlich erlaubte sich Marte wieder einen ihrer Scherze. Oder war sie vielleicht neidisch?
Nein, so war Marte nicht. Anneke kannte sie fast schon ihr ganzes Leben lang. Marte würde nur das Beste für sie wollen.
»Nun, wie jeder weiß, macht Martens seine Geschäfte nicht nur mit den Protestanten«, fügte Marte hinzu und tatsächlich zeigte sich auf ihrem Gesicht eine Spur Besorgnis. »Mein Vater meinte, dass er mit jedem Handel treibt, der gutes Geld zahlt. Vielleicht auch mit den Kaiserlichen. Und vielleicht verkauft er auch Mädchen.«
»Nur weil er Handel mit den Kaiserlichen treibt, heißt das doch noch nicht, dass er Mädchen an sie verkauft! Dafür hat niemand einen Beweis«, hielt Anneke dagegen, doch ein wenig beschlich sie doch die Angst. Was, wenn Martes Behauptung stimmte? Auf einmal wurden ihre Hände klamm und ihr Magen zog sich zusammen, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen.
»Das nicht, aber woher willst du wissen, dass er wirklich dein Vater ist?«, hielt ihre Freundin immer noch an dem
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