Sturmsegel
gewesen.
Aus einer Truhe, die unter dem Fenster stand, holte Sanne ein Kleid hervor. Es war aus einem blauen, leicht glänzenden Stoff genäht, der bestimmt sehr kostbar war. So etwas hatte Anneke zuvor bestenfalls auf dem Marktplatz gesehen.
»Das ist für dich«, sagte Sanne, während sie das Kleidungsstück über dem Stuhl ausbreitete. »Zuvor werde ich dich allerdings in eine Schnürbrust stecken müssen. So etwas hast du noch nie getragen, oder?«
Anneke schüttelte den Kopf.
»Nun, die Schnürbrust ist wichtig, damit eine Dame eine vernünftige Haltung annimmt«, erklärte die Kinderfrau. »Als Tochter eines angesehenen Kaufmanns kannst du nicht krumm wie ein Fleischerhaken durch die Stadt laufen.«
Tue ich das etwa? Anneke warf einen verstohlenen Blick in den Spiegel. Eigentlich hielt sie sich doch ziemlich aufrecht …
Anscheinend aber nicht aufrecht genug für eine Kaufmannstochter.
»Zieh dich bis aufs Hemd aus, dann werden wir sehen, was ich aus dir machen kann.«
Während sich Anneke ihres Kleides entledigte, holte Sanne die Schnürbrust hervor. Dabei handelte es sich um ein Mieder aus Brokat, in das Holzstäbe geschoben wurden, um seine Trägerin gerade zu halten und die Taille so schmal wie möglich zu schnüren.
Zunächst war Anneke von dem glänzenden Stoff fasziniert, doch schon wenig später lernte sie das Kleidungsstück zu hassen.
Ein wildes Gereiße und Gezerre an ihrem Körper begann und sie glaubte schon, dass Sanne ihr die Rippen brechen wollte.
»Nun halt doch still, Mädchen!«, schimpfte die Kinderfrau, als sie versuchte, die Schnürung zu schließen. Anneke rang panisch nach Luft. Es kam ihr so vor, als seien sämtliche ihrer Eingeweide zusammengequetscht worden. Musste es denn schmerzhaft sein, eine Dame zu werden?
»Ich halte ja still, aber ich kann nicht aufhören zu atmen!«, verteidigte sich Anneke japsend.
»Versuch es wenigstens!«, gab Sanne zurück. »Sonst werde ich dich nie hier reinkriegen.«
Während Anneke versuchte, ihren Bauch noch weiter einzuziehen, erinnerte sie sich an das Gespräch mit der Köchin. Wenn das Kleid jetzt schon zu eng war, warum sollte sie dann noch dickgefüttert werden?
Auf keinen Fall würde sie sich bei Tisch zu mehr Essen verführen lassen, sonst würde die Quälerei noch größer werden.
Nach weiterem Zerren und erneutem Luftanhalten, das gereicht hätte, um durch den ganzen Stralsunder Hafen zu tauchen, schaffte es Sanne schließlich, die Schnürung zu schließen.
Anneke fühlte sich, als hätte man sie in ein viel zu schmales Fass gesteckt. Oder gar in eine Tonflasche!
Und es wurde noch schlimmer, als Sanne die Holzstäbe in die dazu vorgesehenen Laschen schob. Kein Wunder, dass feine Damen nicht rannten.
Schließlich warf Sanne ihr das Kleid über. Das Oberteil, das zuvor etwas schmal gewirkt hatte, passte nun perfekt. Nun brauchte auch nicht mehr an ihr gezerrt zu werden.
»Nun, jetzt kannst du dich anschauen«, sagte die Kinderfrau schließlich und drehte sie an den Schultern herum, damit sie sich betrachten konnte.
Annekes Erstaunen über ihren Anblick war so groß, dass sie für einen Moment alle Qualen vergaß.
Die Person im Spiegel sollte sie sein?
Das Kleid war wunderschön. Zahlreiche Bänder und Spitzen zierten es, am Ausschnitt und an den Ärmeln war es sogar mit Perlen besetzt. Der kostbare Stoff floss wie ein Wasserfall über ihre Hüften und durch die Schnürbrust wirkte ihr Busen wie der einer erwachsenen Frau.
Aber das enge Mieder würde Rennen unmöglich machen.
Ein schlimmer Gedanke durchzuckte Anneke. Wer weiß, ob ich noch mit Marte an den Strand gehen darf?!
Sicher würde ihr Vater noch strenger als die Mutter darauf achten, dass sie die Stadt nicht ohne Begleitung verließ. Und er würde sicher auch nicht wollen, dass sie wieder ihre alten Kleider trug. Immerhin war sie jetzt eine Kaufmannstochter.
»Du siehst ganz entzückend aus!«, bemerkte Sanne begeistert, nachdem sie sie prüfend gemustert hatte. »Deine Haut ist glücklicherweise blass und die wenigen Sommersprossen werden vergehen, wenn du nicht so oft in die Sonne gehst. Da man dich jetzt zumindest äußerlich für eine Dame halten kann, werden wir üben, wie eine Dame sitzt und sich bewegt.«
»Ich soll in diesem Kleid sitzen?«, fragte Anneke entsetzt. Allein schon das Stehen fiel ihr in diesem Aufzug ziemlich schwer.
»Natürlich, und wenn man es ein wenig geübt hat, ist es gar nicht so schwer. Halte dich einfach gerade und atme so
Weitere Kostenlose Bücher