Sturmsegel
und während die Möwen über ihnen lautes Geschrei anstimmen, gingen sie Richtung Stadt.
*
Die erste Nacht in dem neuen Bett fühlte sich schrecklich für Anneke an. Mit weit offenen Augen starrte sie an die Zimmerdecke, an die das Mondlicht groteske Schatten warf.
Die Kissen erschienen ihr viel zu weich, die Daunendecke viel zu massig. Sicher, es war bequem, aber sie war es nicht gewohnt und fühlte sich, als wollte das Bettzeug sie erdrücken.
Außerdem tobte die Einsamkeit in ihr. Sie befand sich inmitten von ihr fremden Menschen in einem fremden Haus und in einem fremden Bett.
Bis auf Hinrich waren alle freundlich zu ihr, aber sie strahlten nicht die Wärme aus, die sie von ihrer Mutter gewohnt war. Außerdem hörte sich hier alles anders an als in der Hütte. Dort hatten ständig irgendwelche Balken geknarrt, hier war alles ruhig, sodass man die Mäuse laufen hören konnte. Doch nicht einmal die schien es hier zu geben. Nur der Wind, der am Fenster vorbeistrich, sang ihr ein Nachtlied.
Der einzige Trost war ihr das Haarband ihrer Mutter, das sie neben sich auf das Kissen gelegt hatte. Sanft strich sie mit den Fingern über die Stickerei, dann presste sie ihre Wange darauf und glaubte, den vertrauten Geruch der Mutter wahrzunehmen. Doch den erhofften Trost fand sie darin nicht.
Plötzlich war es, als würde in ihrer Brust etwas bersten. Vor Hinrich und den anderen hatte sie nicht weinen wollen, denn man sollte sie nicht für schwach halten. Doch nun brach alles in einem lauten Schluchzen aus ihr hervor und die Tränenbäche flossen nur so über ihre Wangen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Fest klammerte sie sich an das Haarband und das Kissen und es kümmerte sie nicht, dass beides durchnässt wurde.
Durch ihr Weinen hörte sie jedoch plötzlich ein Kratzen an der Tür. Hatte sie etwa jemanden geweckt? War es Hinrich, der sich über die Störung beschweren wollte?
Rasch wischte sie sich über die Wangen und sagte: »Herein.«
Als sich die Tür öffnete, zog sie die Decke bis zum Kinn hoch. Wenn es wirklich Hinrich war, sollte er sie nicht so sehen.
Zunächst sah sie nur etwas Weißes, dann erkannte sie, dass es ein Nachthemd war, über dessen Kragen der Kopf von Sanne thronte. Auf ihrem Haar trug sie eine Nachthaube mit breiter Rüsche.
»Kind, was ist denn?«, fragte sie leise, während sie die Tür hinter sich schloss und auf Zehenspitzen näherkam. »Warum weinst du?«
Jetzt war es wohl zwecklos, Stärke vorzutäuschen!
Anneke blickte sie einen Moment schweigend an, dann sagte sie: »Ich musste wieder an meine Mutter denken. Ich fühle mich so einsam ohne sie.«
Sanne hockte sich neben ihr Bett und strich sanft über ihr Haar. »Das kann ich verstehen. Ich habe meine Mutter auch recht früh verloren und mir ging es so wie dir. Aber ich hatte viele Schwestern, und weißt du, was wir gemacht haben, wenn uns nachts die Trauer übermannt hat?«
Anneke schüttelte den Kopf.
»Wir sind zusammen in das größte Bett unseres Hauses gekrochen und haben uns aneinandergeschmiegt wie Marienkäfer, denen kalt ist. Dabei haben wir uns Geschichten erzählt, bis uns die Augen zugefallen sind.«
»Ich habe leider keine Schwester«, entgegnete Anneke und dachte daran, dass Marte wohl dem am nächsten kam. Aber die schlief in einem anderen Haus, viele Straßen von hier entfernt.
»Wenn du möchtest, kann ich so tun, als sei ich deine ältere Schwester. Immerhin bin ich erst einundzwanzig Jahre alt, da wäre es doch gut möglich, oder?«
Anneke hätte jetzt entgegnen können, dass ihre Mutter viel zu jung gewesen wäre, um sie zu bekommen. Aber Sannes Angebot rührte sie und der Duft nach getrockneten Veilchen, den ihr Nachthemd verströmte, war so angenehm, dass sie zur Seite rückte. Das nasse Haarband barg sie in ihrer Hand und drückte es an ihr Herz.
Sanne schlug die Bettdecke zurück und schlüpfte hinein.
Nie wäre es Anneke in den Sinn gekommen, sich an Sanne zu kuscheln, wie sie es bei ihrer Mutter getan hatte, aber ihre Anwesenheit wirkte allein schon Wunder. Die Bettdecke erschien nicht mehr so schwer und die Einsamkeit zog sich zurück.
»Was hast du da?«, fragte Sanne, als sie das Band in ihrer Hand bemerkte.
»Ein Andenken an meine Mutter«, entgegnete Anneke und öffnete die Hand leicht, damit Sanne das Haarband betrachten konnte. »Das einzige, das ich noch habe.«
»Oh, ich glaube, du hast noch viele weitere.« Sanne streichelte über ihre Wange. »Dein Gesicht hast du bestimmt
Weitere Kostenlose Bücher