Sturmsegel
von ihr. Und deine Augen. Außerdem alles, was sie dir Gutes getan hat. Bestimmt ist dein Herz voller Andenken und die wird dir nie jemand nehmen können.«
Das hörte sich für das Mädchen zunächst seltsam an. Doch dann musste sie zugeben, dass Sanne in gewisser Weise recht hatte. Sie brauchte nur ihre Augen zu schließen und sich vorzustellen, wie sie mit ihrer Mutter über die Wiese lief oder Äpfel von ihrem Baum erntete. Ihr Leben lang würde sie das nicht vergessen.
Eine Weile lagen sie schweigend nebeneinander und sahen sich an, dann fragte Sanne: »Soll ich dir die Geschichte vom Petermännchen im Herzogsschloss erzählen? Wie es die Bösen bestraft und den Guten hilft?«
Anneke fühlte sich eigentlich schon zu alt für Märchen, aber diesmal nickte sie und genoss es, keine Dame zu sein, sondern einfach nur sie selbst. Ein trauerndes Mädchen, dem das Liebste im Leben genommen worden war.
*
Am nächsten Tag begann der Unterricht, bei dem Sanne versuchte, die Anweisungen ihres Dienstherrn mit ihren eigenen Überzeugungen zu verbinden.
Auch wenn sie Anneke in der Nacht eine Geschichte erzählt und sie getröstet hatte, so war sie tagsüber doch eine strenge Lehrmeisterin. Sie achtete genau darauf, dass sie sich beim Schreiben richtig hielt, nicht kleckste und grazile Buchstaben formte.
»Die Handschrift einer Dame soll wie eine Perlenkette sein«, erklärte sie ihr. »Sie ist nur dann schön, wenn die Perlen gleichmäßig sind. Verunstaltete Exemplare würde ein Goldschmied nie verwenden.«
Glücklicherweise war sie aber nicht nur zu Anneke streng, sondern auch zu Hinrich. Als er sie beim Frühstück wieder schief ansah, rügte Sanne ihn und wies darauf hin, dass ein junger Mann seine Schwester nicht so feindselig anblicken durfte.
Als Hinrich unwillig schnaufte und seinen Löffel auf den Tisch knallte, erntete er einen leichten Stüber seines Vaters und den Hinweis, dass er sich nicht vergessen sollte.
Annekes klammheimliche Freude über die Rüge für Hinrich hielt aber nicht lange an. Sie musste sich erneut in ihrem unbequemen Kleid ans Schreibpult setzen und Schreibübungen machen. Wiederum bekam sie die erstickende Macht der Schnürbrust zu spüren.
Doch alles Bitten, Flehen und Drohen, dass sie keine Luft bekommen würde, half nichts, die Schnürbrust blieb auf ihrem Körper.
»Du wirst dich schon daran gewöhnen«, meinte Sanne, nachdem Anneke sich erneut schnaufend aufgerichtet hatte.
Aber das Mädchen zweifelte daran. Wie sollte sie sich aufs Schreiben konzentrieren, wenn sie Mühe hatte, Luft in ihre Lungen zu bekommen?
Nachmittags befreite Sanne sie vom Unterricht, doch umziehen durfte sie sich auch heute nicht.
Aber das war nicht so schlimm, denn wiederum hinderte sie niemand daran, zum Strand zu laufen und sich mit Marte zu treffen. Diesmal erwartete diese sie bereits am Wasser.
»Wie ich sehe, bist du noch nicht verkauft worden!«, neckte Marte die Freundin, nachdem sie sich umarmt hatten.
»Offenbar hat der Kaufmann das auch nicht vor. Er lässt mich unterrichten und heute haben meine Kinderfrau und er Hinrich am Frühstückstisch gerügt. Offenbar liegt ihnen doch ein bisschen was an mir.«
Marte lächelte breit. »Das freut mich für dich. Es wäre schön, wenn du im Kontor richtig heimisch werden würdest. Dann könntest du mir hin und wieder gebrannte Mandeln mitbringen!«
Damit stupste sie sie scherzend an und wenig später rannten beide über den Strand wie früher. Zwischendurch hielten sie Ausschau nach Schiffen und entdeckten Fischerboote, die mit prall gefüllten Netzen heimkehrten.
*
Die Stunden flogen nur so dahin und schließlich war es Zeit für die Mädchen, hinter die schützenden Stadtmauern zurückzukehren. Sie verabschiedeten sich wie immer mit einer Umarmung und strebten dann ihrem jeweiligen Zuhause entgegen.
Aus dem Kaufmannshaus strömte Anneke ein köstlicher Duft nach Kräutern und Graupensuppe entgegen. Nettel war offenbar schon voll bei den Vorbereitungen zum Abendessen. Sie rief ihr einen kurzen Gruß zu und erklomm dann die Treppe.
Als sie ihre Kammer betrat, stellte Anneke fest, dass der Hühnerkäfig verschwunden war.
Hinrich!, dachte sie zornig. Wer sonst sollte den Käfig versteckt haben?
Wutentbrannt lief Anneke die Treppe hinunter. Ihr Vater war immer noch nicht zurück, Sanne ruhte in ihrer Kammer und Nettel drehte sich lediglich verwundert nach ihr um, als sie auf den Hof stürmte.
Na warte, dachte sie und verspürte eine selten
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