Sturmsegel
gekannte Raufboldstimmung. Dass sie von Hinrich Bastard genannt wurde, hatte sie zuerst nur traurig gestimmt, das verschwundene Huhn versetzte sie in Wut und brachte nun das Fass zum Überlaufen.
Mit langen Schritten eilte sie zum Kontor und riss die Tür auf. Kurz ließ sie ihren Blick über die dort aufgereihten Kisten, Fässer und Glasbehälter schweifen.
Hinrich war nirgends zu sehen – aber zu hören. Die Geräusche führten Anneke geradewegs in den Speicher, in dem die Kornsäcke gelagert wurden. Hinrich war gerade damit beschäftigt, Kleie in kleine Säcke umzufüllen.
»Wo ist mein Huhn?«, fuhr Anneke ihn an und stemmte die Hände in die Seiten.
Hinrich tat so, als wäre sie Luft.
»Hast du keine Ohren am Kopf?« Anneke hätte Hinrich am liebsten aus seinem Wams geschüttelt.
»Die habe ich«, entgegnete Hinrich ohne von seiner Arbeit aufzusehen. »Aber ich habe Arbeit zu erledigen und kann mich nicht um dein Huhn kümmern.«
»Aber die Zeit hattest du, den Käfig aus meiner Kammer zu holen!«, beschuldigte ihn Anneke, während der Zorn in ihrem Bauch tobte.
»Ich habe ihn nicht aus deiner Kammer geholt«, entgegnete Hinrich kühl. »Wie gesagt, ich habe zu tun.«
»Du lügst!«, kreischte Anneke daraufhin. »Du kannst mich nicht leiden und willst mich dafür strafen, dass dich dein Vater geohrfeigt hat!«
Jetzt schnellte Hinrichs Kopf nach oben. In seinen Augen glomm der Hass.
»Was mein Vater mit mir macht, ist nicht deine Sache, Hurenbalg!«, zischte er. »Du und dein dämliches Huhn, ihr gehört nicht hierher. Das Tier hat's begriffen und ist schon mal zurück zu deiner Hütte geflogen. Du solltest ihm folgen.«
Das reichte! Plötzlich sah Anneke rot. Ihre Mutter hatte ihr immer eingeschärft, sich nichts gefallen zu lassen. Hinrich hatte nicht das Recht, sie auf diese Weise zu beleidigen!
Obwohl sie dünner war als er, schaffte sie es, ihm einen Stoß gegen die Schultern zu versetzen, der ihn nach hinten warf. Der Kleiesack fiel ihm dabei aus der Hand, sein Inhalt verteilte sich über den Boden.
Hinrich funkelte sie zornig an, und nachdem er tief Luft geholt hatte, stürzte er sich auf Anneke. Gemeinsam fielen sie zu Boden und begannen mit einer wilden Balgerei. Hinrich schlug, Anneke kratzte. Schließlich rissen sie sich gegenseitig an den Haaren. Anneke gelang es, ein ganzes Haarbüschel zu erwischen. Nach einer Ohrfeige, die halb auf ihrer Nase landete, schossen ihr Tränen in die Augen.
Doch sie wollte nicht aufgeben. Sie brachte es fertig, sich aus seinem Griff zu winden, wobei nun auch sie ein paar Haare einbüßte. Aber das bemerkte sie in ihrer Rage nicht. Als sie eine Hand frei hatte, verpasste sie Hinrich ebenfalls einen Schlag mitten ins Gesicht, sodass er aufstöhnte.
»Hinrich! Anneke!«, donnerte es plötzlich über ihre Köpfe hinweg.
Ohne dass sie es mitbekommen hatten, war der Kaufmann durch die Tür getreten. Der Junge zuckte zusammen und ließ augenblicklich von Anneke ab.
Ihr standen die Tränen in den Augen, aber sie konnte das Weinen unterdrücken. Trotzig rieb sie das Wasser unter ihren Lidern weg und erhob sich dann ebenfalls.
Hinrich zeigte kein bisschen Reue, sondern blickte seinen Vater einfach nur zornig an.
»Kann mir jemand erklären, was zum Teufel in euch gefahren ist?«, fragte Roland Martens ungehalten.
Anneke hätte ihm von dem verschwundenen Hühnerkäfig erzählen können, aber sie schwieg. Es war ihre Sache und sie wollte sie allein regeln.
Auch Hinrich sagte nichts. Stattdessen funkelte er seine Halbschwester an, als wollte er die Prügelei gleich weiterführen.
Erst jetzt bemerkte Anneke einen blutigen Kratzer auf seiner rechten Wange.
»Ich bin ziemlich enttäuscht von euch beiden!«, hob der Kaufmann schließlich an. »Ihr seid beide meine Kinder, das sollte euch eigentlich zusammenhalten lassen. Aber nein, ihr prügelt euch und werft wertvolles Handelsgut auf den Boden. Lasst euch so was nicht noch mal einfallen!«
»Vater, ich …«, begann Hinrich und der Kaufmann hob die Hand. Instinktiv wich der Junge zurück. Doch Martens hatte nicht vor, ihn zu schlagen.
»Schweig! Ich will nicht wissen, wer angefangen hat. Ich will, dass ihr euch vertragt und vernünftig miteinander umgeht, habt ihr das verstanden?«
Beide mussten sich zu einem Nicken zwingen.
»Hinrich, du wirst hier aufräumen«, beschied der Kaufmann schließlich. »Und Anneke, du wirst ihm dabei helfen. Anschließend gehst du zu Sanne und lässt dir aus dem Kleid
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