Sturmsegel
Packpapier zu ihren Füßen. Sie hob es auf und las:
Neben der Kirchmauer.
Der Schriftzug wirkte ein wenig unordentlich. Wahrscheinlich war das Hinrichs Gekrakel.
Was meinte er damit?
Anneke würde es wohl nur herausfinden, wenn sie dorthin ging. Vielleicht lauerte er ihr mit ein paar Freunden auf, aber sie musste ihrem Bruder zeigen, dass sie nicht feige war.
Nachdem sie sich ihr altes Kleid übergeworfen hatte, schlich sie sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
Aus den Tiefen des Hauses vernahm sie die Stimmen des Kaufmanns und von Sanne. Hinter Hinrichs Kammertür war alles still.
Sie schlich die Treppe hinab und zur Haustür. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Hinrich nicht irgendwo lauerte, trat sie nach draußen.
Nicht jeder würde sich um diese Zeit zum Kirchhof wagen. Selbst Erwachsene hatten Angst, dort irgendwelche Geister anzutreffen. Auch Anneke fürchtete sich ein wenig, aber der Zorn auf Hinrich stärkte ihren Mut.
Die Fenster der Häuser, die sie passierte, waren von Kerzenschein erhellt. Ab und an schob sich kurz ein Schatten vor den Lichtschein.
Der Abendwind, der vom Meer herüberwehte, schnitt kalt in ihr Gesicht und schon nach wenigen Schritten bereute sie, ihr Schultertuch nicht mitgenommen zu haben. Keine Menschenseele kam ihr entgegen, auch die Schweine und Hühner, die sonst die Straßen bevölkerten, waren verschwunden. Nur ein paar Katzen schlichen durch die Dunkelheit.
An der Kirchmauer angekommen blickte sich Anneke um. Wo würde Hinrich auf sie lauern?
Plötzlich vernahm sie ein Gackern. Zunächst hielt sie es für eine Sinnestäuschung, doch dann wiederholte sich das Geräusch. Und es klang echt, nicht wie die Nachahmung eines Menschen.
Anneke lief an der Mauer entlang, bis das Gackern schließlich ganz nahe klang. Da sie kaum noch etwas erkennen konnte, tastete sie mit den Händen über die Steine, bis sie schließlich auf Holz traf.
Der Hühnerkäfig war zwischen den Steinen verkeilt, sodass sie sich ziemlich anstrengen musste, ihn hervorzuziehen.
»Hätt nicht gedacht, dass du herkommen würdest«, ertönte eine Stimme hinter ihr.
Anneke fiel vor Schreck beinahe der Käfig aus der Hand.
Sie wirbelte herum und erblickte Hinrich. Er war allein und stand auf der steinernen Umfriedung. Wahrscheinlich hatte er sie schon eine Weile beobachtet.
»Warum sollte ich nicht?«, entgegnete sie so furchtlos wie möglich. »Es ist mein Huhn.«
»Schon, aber du hättest es auch Vater sagen können«, gab Hinrich zurück.
»Warum sollte ich das tun?«, entgegnete sie gleichgültig. »Er hätte mir gewiss geraten, meine Angelegenheiten selbst zu regeln.«
Hinrich schnaufte verächtlich. »Du bist ein Mädchen, von dir erwartet niemand, dass du selbst was regelst.«
Hast du eine Ahnung, dachte Anneke und verspürte das unbändige Verlangen, ihn von der Steinmauer runterzuholen und die Prügelei hier draußen fortzusetzen.
»Auf jeden Fall scheinst du anständiger zu sein, als ich es von einem Hurenbalg erwartet hätte«, meinte Hinrich herablassend.
Die Wut in Anneke wuchs weiter. Aber sie wollte es zur Abwechslung mal mit Vernunft versuchen. Auch wenn sie ahnte, dass sie bei ihm damit nicht weiterkommen würde.
»Warum nennst du mich so?«, fragte sie. »Meine Mutter war eine ehrbare Frau. Außerdem kanntest du sie gar nicht.«
»Und das will ich auch gar nicht«, gab Hinrich verächtlich zurück. »Wie alt bist du? Vierzehn oder fünfzehn? Ich bin sechzehn und Sönke achtzehn. Deine Mutter hat unseren Vater verführt, als unsere Mutter noch lebte! Nennst du das eine ehrbare Frau?«
Diese Worte prasselten wie Hagelkörner auf Anneke herab. Sie wusste nur, dass ihre Mutter anständig und liebevoll gewesen war. Etwas anderes interessierte sie nicht. Außerdem, das wusste sie selbst mit ihren fünfzehn Jahren, gehörten zu einer Verführung immer zwei. Und meist waren es die Männer, die ihre Hände nicht von den Frauen lassen konnten. Das hatte sie so manches Mal beobachten können.
»Sie hat ihn nicht verführt!«, schrie sie Hinrich so laut an, dass ein paar Tauben aus dem nahen Gebüsch stoben und zum Kirchturm aufflatterten. »Außerdem hast du kein Recht, über sie zu richten!«
»Und ob ich das Recht dazu habe!«, gab Hinrich zurück. Seine Augen funkelten. Er hatte ihre Schwachstelle erkannt. »Deine Mutter war eine Hure, sie hat meinen Vater dazu gebracht, meiner Mutter untreu zu sein. Du wirst nie meine Schwester sein, sondern immer nur ein Hurenbalg. Du hast
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