Sturmsegel
ihre Arme zu ziehen.
Als der Sarg in die Grube gesenkt worden war und die Trauergemeinde den Friedhof verlassen hatte, ergab sich dann endlich ein Moment, in dem sie mit Ingmar allein sein konnte. Sie setzten sich auf die steinerne Umfriedung des Kirchhofes und lauschten dem Wind, der durch die Bäume strich.
»Wie geht es dir?«, fragte Anneke schließlich.
»Wie soll es schon gehen?«, gab er zurück, schroffer, als er es wahrscheinlich gewollt hatte.
Gleich entschuldigte er sich. »Ich habe es nicht so gemeint. Es ist alles so seltsam, so falsch. Auch wenn ich selbst fast schon erwachsen bin, meine Mutter hätte ich doch gern noch eine Weile länger gehabt.«
Annekes Hand legte sich vorsichtig auf seine. Worte wollten ihr nicht einfallen, es gab einfach keine, um Ingmar zu trösten oder ihm die Trauer zu erleichtern.
Nachdem sie eine Weile schweigend beieinander gesessen hatten, war es Zeit, dass er zu seinen Verwandten zurückkehrte.
»Willst du nicht mitkommen?«, fragte er, doch Anneke schüttelte den Kopf.
»Ich muss zurück in die Schenke. Außerdem wird deine Familie dir wohl keine Ruhe lassen, wenn ich da bin. Sie werden dich fragen, ob ich deine Braut bin.«
»Das fürchte ich nicht«, entgegnete Ingmar mit einem Blick, der ihr auch dann noch im Herzen brannte, als sie dem Friedhof längst den Rücken gekehrt hatte.
*
Zurück in der Schenke fühlte sie sich ziemlich mitgenommen, doch die Arbeit nahm darauf keine Rücksicht. Gäste kamen und gingen, Töpfe mussten gescheuert und Humpen ausgetragen werden.
Der Einzige, der zu spüren schien, dass es ihr nicht gut ging, war Tjorven. Während sie in der Küche werkelte, betrachtete er sie so intensiv, als würde er versuchen, in ihre Gedanken zu sehen.
Solange Gitta da war, traute er sich nicht aus seiner Ecke. Seit dem Vorfall mit seinem Stiefvater ging er ihr aus dem Weg.
Die Magd vermied es ihrerseits, Tjorven anzusehen. Sie gab ihm weder Anweisungen noch scheuchte sie ihn irgendwo weg. Für sie schien er sich in Luft aufgelöst zu haben.
Hatte Magnus ihr von seinem Verdacht erzählt?
Als die Magd die Küche verließ, huschte Tjorven aus der Ecke. Er stupste Anneke mit einem Finger an, und als sie ihn ansah, zog er eine geheimnisvolle Miene.
Irgendetwas verbarg er hinter seinem Rücken.
Obwohl Anneke jetzt nicht danach zumute war, seine Gesten zu deuten, fragte sie: »Was gibt es denn?«
Tjorven lächelte breit und bedeutete ihr dann, dass sie die Augen schließen sollte.
Da sie nicht wollte, dass Gitta sie anfuhr, wenn sie zurückkam, tat sie ihm den Gefallen und fügte hinzu: »Beeil dich aber!«
Wenig später spürte sie, wie Tjorven nach ihrer Hand griff. Seine Finger fühlten sich ein bisschen klebrig an, aber das war nicht das Überraschende. Ein Gegenstand landete auf ihrer Handfläche. Als Anneke die Augen öffnete, erkannte sie ein winziges Schiffsmodell.
Es war nicht so perfekt wie jene, die Hendrick Svensson seiner Frau geschenkt hatte, aber man konnte deutlich Masten und Segel erkennen.
»Soll das die Vasa sein?«, fragte Anneke, während sie das geschnitzte Schiffchen auf ihrer Hand hin und her drehte.
Offensichtlich erfreut darüber, dass sie das Schiff erkannt hatte, klatschte Tjorven begeistert in die Hände und lachte auf.
»Sie ist sehr schön geworden. Vielleicht solltest du sie noch bemalen.«
Tjorven schüttelte den Kopf und bedeutete ihr dann, dass er ihr das Schiff schenken wollte.
»Aber das kann ich nicht annehmen!«, entgegnete Anneke, denn sie dachte wieder an den Abend im Svensson-Haus zurück. Die Vasa, die Hendrick seiner Frau geschenkt hatte, war ein Liebespfand gewesen. Tjorven wusste davon nichts, aber ihr schnürte der Anblick doch die Kehle zu. Sie spürte, dass er sie mochte, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihn jemals zu lieben. Bestenfalls würden sie sich anfreunden.
Tjorven bestand jedoch darauf, dass sie das Schiff nehmen sollte. Er griff nach ihrer Hand, schloss die Finger um die Schnitzarbeit und nickte ihr heftig zu. Da konnte sie nicht weiter nein sagen. Im nächsten Augenblick polterten Gittas Schritte herbei. Tjorven zuckte zusammen, dann huschte er in seine Ecke zurück.
Anneke verbarg das Schiff rasch hinter ihrem Rücken.
»Hilf mir beim Austragen, Mädchen!«, rief die Magd, machte dann gleich wieder kehrt, ohne sie näher anzusehen.
»Ich komme!«, sagte Anneke, und nachdem sie noch einmal zu Tjorven geblickt hatte, folgte sie der Magd in den Schankraum.
*
Als sich
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