Sturmsegel
suchten sich einen Platz auf dem Hinterhof des Hauses und hockten sich hinter ein Fass.
»Erzähl, was ist geschehen?«, fragte Anneke, während sie die Hand auf seinen Arm legte. Mehr würde er nicht zulassen, das wusste sie.
Ingmar sprach stockend und leise. »Die Wehen kamen plötzlich. Ella, unsere Magd, wollte gerade nach Mutter sehen, als sie sie auf dem Bett fand. Sie wand sich und stöhnte. Ella holte die Hebamme, doch die Geburt war schwer. Die Hebamme schickte die Magd zu uns auf den Schiffsbauhof und mein Vater rannte sofort los. Ich wusste zunächst nicht, warum, aber ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Ich rannte ihm nach und erreichte das Haus einige Minuten später. Die Hebamme stürzte mir entgegen, vollkommen aufgelöst murmelte sie Gebete. Mein Vater hatte sie rausgeworfen. Meine Mutter lag auf dem Bett, den Bauch immer noch so dick wie vorher. Das Kind, so erzählte mir die Magd später, hätte falsch gelegen und der Hebamme sei es nicht gelungen, es zu drehen. Mutters Herz ist von der ganzen Anstrengung stehen geblieben.«
»Wie furchtbar!«, raunte Anneke.
»Vater hat noch nach einem Medikus geschickt, der das Kind aus dem Leib meiner Mutter schneiden sollte. Doch der Arzt meinte, das Kleine sei ebenfalls schon tot.«
Nach diesen Worten brach er in Tränen aus.
Anneke war ebenfalls zum Heulen zumute, während sie ihm tröstend die Schulter streichelte.
Plötzlich flog neben ihnen die Tür auf.
»Anneke, wo steckst du?«, fragte Gitta wütend, sah dann aber den weinenden Jungen neben ihr.
»Seine Mutter ist bei der Niederkunft gestorben«, erklärte Anneke knapp und sah, wie Gitta erbleichte. Ob sie Susanna Svensson kannte?
»Fünf Minuten, dann kommst du wieder rein. Ich schleppe mich nicht den ganzen Abend über allein ab.«
Anneke war froh, dass sie Ingmar nicht gleich wieder allein lassen musste. Die Nacht würde furchtbar für ihn werden, wenigstens konnte er die Erinnerung an ihren Trost mitnehmen.
*
Während am nächsten Tag in der Stadt alles in Bewegung war, die Schenke so gut besucht wurde wie nie und die Vasa Stück für Stück vollkommener wurde, brachte Susannas Tod die Zeit im Svensson-Haus zum Stillstand. Minute um Minute verrann zäh. Menschen gingen an den Fenstern vorüber, Wolken zogen über das Haus hinweg und die Spatzen jagten einander über die Dächer. Ab und an kamen Nachbarn vorbei, um Hendrick und Ingmar ihr Beileid auszusprechen. Doch auch ihnen gelang es nicht, die Zeit wieder zum Laufen zu bringen.
Ingmar berichtete Anneke davon, als er sie zwei Tage später um die Mittagszeit hinter der Schenke überraschte.
Sie war gerade nach draußen gegangen, um Schmutzwasser in die Gosse zu gießen, da tauchte er plötzlich neben ihr auf. »Solltest du nicht auf der Werft sein?«, fragte sie erstaunt.
Ingmar nickte. »Ja, aber mein Vater hat die Hybertssons um ein paar freie Tage gebeten. Es gibt einiges im Haus zu tun.«
Bei diesen Worten kam Anneke wieder in den Sinn, wie die Totenfrau in die Schlafstube ihrer Mutter getreten war. Ob es hier in Stockholm auch solche Weiber gab?
Ein Schauer überlief Anneke, dann fragte sie: »Und wie geht es dir?«
»Nicht gut«, gab er zu. »Ich grüble ständig, was ich hätte tun können. Doch mir ist nichts eingefallen.«
»Der Tod lässt sich nicht betrügen«, entgegnete sie sanft. »Meine Mutter hat er auch fortgenommen, obwohl ich ihr an diesem Morgen eine kräftigende Brühe kochen wollte.«
»Als ich heute morgen wach wurde, glaubte ich, in der Küche auf meine Mutter zu treffen«, sagte Ingmar traurig. »Und dann komme ich in die Küche, vernehme die Stille und sehe die Magd allein am Herd. Früher stand Mutter immer bei ihr und hat mit ihr das Morgenmahl zubereitet.«
Anneke konnte gut verstehen, was er fühlte. Den Verlust eines geliebten Menschen konnte man nicht so schnell verwinden. Wenn er ihr sein Leid klagte, schwieg sie und hörte einfach nur zu.
»Das Schlimmste ist aber die Trauer meines Vaters«, gestand er ihr. »Er ist wie aus Stein. Mit rot geränderten Augen starrt er entweder ins Feuer oder in die Kerzenflamme vor sich, manchmal hält er dabei das Modell der Vasa in der Hand.«
Anneke erinnerte sich. Das Symbol der Liebe Hendricks zu seiner Frau.
»Er rührt kein Essen an und manchmal habe ich Angst, er wird eines Tages verhungern.«
»Er wird nicht verhungern, glaube mir«, entgegnete das Mädchen und griff dann nach seiner Hand. »Lass ihm die Zeit der Trauer. Wenn er wieder Hunger
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