Sturmsegel
Missgeburt!«, herrschte Magnus sie an, doch Anneke hörte nicht darauf. Zorn kochte in ihr hoch wie überlaufende Milch.
Egal, was die Ursache des Streits war, der Wirt hatte nicht das Recht, seinen Stiefsohn die Treppe hinunterzustoßen. Er hätte sich das Genick brechen können!
»Er blutet«, entgegnete sie, um Beherrschung bemüht. Eigentlich hätte sie Magnus noch ganz andere Dinge an den Kopf werfen wollen. Aber sie wusste, dass dies ihre Kündigung bedeuten könnte. »Bitte lasst mich ihn versorgen. Ihr könnt doch nicht …«
Ein plötzlicher Schrei unterbrach sie. Inga war hinter Magnus aufgetaucht und betrachtete entsetzt ihren vor der Treppe liegenden Jungen.
»Fluch über dich, Magnus!«, schleuderte sie ihm hasserfüllt entgegen. »Meinetwegen kannst du gehen und Gitta mitnehmen, aber du wirst auf keinen Fall meine Schenke in deine Finger kriegen! Wenn ich dem Richter von deiner Untreue erzähle, wenn ich ihm sage, dass du meinen Sohn misshandelst, bekommst du nicht einen lausigen Riksdaler.«
Anneke konnte nur ahnen, worum sich der Streit gedreht hatte. Magnus blieb noch eine Weile drohend an der Treppe stehen und versperrte Inga, die gleich zu ihrem Sohn wollte, den Weg. Als er sich endlich in Bewegung setzte, lief sie ihm hinterher. Anneke zog Tjorven vorsichtshalber aus dem Weg und zuckte zusammen, als die stämmigen Beine des Wirtes an ihr vorüberpolterten.
Doch er verzichtete darauf, dem Jungen noch mehr anzutun. Während sich Inga über ihn beugte und sein Gesicht streichelte, wich Anneke zurück und beobachtete, wie der Wirt durch die Schankstube stapfte und schließlich aus dem Wirtshaus stürmte.
»Hol mir Wasser, Mädchen«, sagte Inga sanft, als die Tür ins Schloss gefallen war. »Offenbar bist du die einzig gute Seele hier.«
Anneke erhob sich und eilte an Gitta vorbei in die Küche. Sie sah sie nicht an, war aber fest davon überzeugt, dass sie noch immer lächelte.
*
Gespannte Stille herrschte am nächsten Morgen im Wirtshaus. Inga kam nicht zum Frühstück herunter und auch Tjorven war nicht zu sehen. Magnus schlang misslaunig seine Grütze hinunter. Gitta ließ sich keine Gefühlsregung anmerken. Sie verrichtete ihre Arbeit wie immer und tat, als sei nichts geschehen.
Wenn sie jedoch glaubte, dass niemand sie beobachtete, lächelte sie wieder. Ein richtiges Hexengrinsen, fand Anneke, deren wachsamem Blick die Magd nicht entgehen konnte.
Bis zum Abend verrichtete jeder seine Arbeit schweigend. Magnus brummte vor sich hin und sprach auch nicht mit Gitta.
Anneke hätte zu gern gewusst, wie es Tjorven ging, doch vom Wirt und seiner Magd brauchte sie keine Auskunft zu erwarten.
Doch auch Inga wollte sie nicht gegenübertreten. Und sie wollte auch nicht mit Tjorven sprechen, weil er sich dann vielleicht etwas an Gefühlen einbilden würde, was bei ihr nicht da war.
Als die Gäste einkehrten und der Spielmann seine Lieder zum Besten gab, schien die Anspannung ein wenig nachzulassen. Magnus scherzte wie immer, Gitta lachte.
»Hast du von dem großen Schiff gehört, Mädchen?«, fragte der Spielmann, als sie ihm wie immer seine Suppe brachte. »Von der Vasa, die morgen in See stechen wird?«
Anneke nickte. »Ich habe davon gehört und werde morgen dabei sein, wenn sie durch das Hafenbecken fährt.«
»Nun, dann sind wir schon zwei. Möchtest du mich nicht begleiten?«
»Ich habe schon jemanden, mit dem ich gehe«, entgegnete Anneke fröhlich.
»Ah, deinen Liebsten! Verstehe, meine arme Sängerseele soll also wieder allein bleiben.«
Er stockte einen Moment und Anneke wollte sich schon zum Gehen wenden, als er ihr Handgelenk packte und sie zurückhielt.
»Sag, was ist da zwischen Magnus und seiner Frau?«, fragte er mit neugierig leuchtenden Augen. »Man sagt, dass er sie wegen Hexerei angezeigt hat.«
Diese Beschuldigung erschreckte Anneke so sehr, dass sie nach Luft schnappte.
»Davon weiß ich nichts.«
»Sie soll ihm nach dem Leben trachten. Er hat sogar behauptet, dass sie die Magd vergiften wollte. Und ihr Sohn soll vom Teufel besessen sein.«
Anneke fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Hatte Magnus das gestern nach dem Streit getan? War er deshalb nachts noch aus der Schenke gelaufen?
»Ich kann Euch nur sagen, dass ich von nichts weiß«, beharrte Anneke. Natürlich hätte sie von dem Treppensturz erzählen können und davon, dass Magnus den Jungen misshandelte. Aber dass er seine Frau wegen Hexerei angezeigt hatte, verschlug ihr die
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