Sturmsegel
der Tag näherte, an dem die Vasa auf Jungfernfahrt gehen sollte, kam Ingmar nachmittags in die Schenke, wie er es auch schon getan hatte, als er für seine Mutter Buttermilch holen wollte.
Anneke schrubbte gerade die Türschwelle und war so versunken in ihre Gedanken, dass sie ihn gar nicht kommen hörte.
»Hej, Anneke«, sagte er, und als sie erschrocken zusammenzuckte, lachte er kurz auf. »Seit wann erschreckst du dich vor mir?«
Anneke richtete sich auf und strich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. Dass der Schweiß ihr nur so übers Gesicht lief, war ihr unangenehm, doch dann sagte sie sich, dass es allen so ginge, die bei diesen Temperaturen arbeiteten.
»Ich habe mich nicht vor dir erschrocken, ich war nur in Gedanken«, antwortete sie und musterte ihn.
Seine schwarze Kleidung war dem normalen Gewand mit einem Trauerflor um den rechten Arm gewichen. Und zum ersten Mal seit Tagen wirkte seine Miene wieder etwas fröhlicher.
»Gedanken worüber?«
»Über dieses und jenes«, gab Anneke zurück. »Was einem eben so einfällt, wenn man die Schwelle schrubbt. Was führt dich her?«
»Ich wollte fragen, ob du dir mit mir anschauen willst, wie die Vasa auf Jungfernfahrt geht. Übermorgen ist es so weit.«
Anneke lächelte breit. Zufälligerweise hatte Magnus heute Morgen erwähnt, dass er sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollte.
»Wenn das Schiff erst mal ablegt, wird eh niemand kommen und Bier verlangen. Das passiert hinterher, wenn sie sich an den Segeln sattgesehen haben.«
»Aber sicher doch, sehr gern!«, antwortete sie.
»Und Magnus?«
»Wird die Schenke für eine oder zwei Stunden schließen. Je nachdem wie lange das Schiff braucht, um auf die Ostsee hinauszusegeln.«
»Ich fürchte, das wird nicht lange dauern, denn die Vasa ist nicht nur riesig und prachtvoll, sie wird auch schnell sein.«
»Dann würde ich sagen, genießen wir jeden Augenblick!«
Auf diese Worte hin entstand eine kleine Pause.
Irgendetwas schien Ingmar noch auf dem Herzen zu haben, doch er schien nicht so recht zu wissen, wie er es anbringen sollte.
»Was ist?«, fragte Anneke schließlich. »Geht es dir nicht gut?«
Doch, es ging ihm gut. Nachdem er sich nach allen Seiten hin umgeschaut hatte, beugte er sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Er dauerte nur kurz und seine Lippen streiften ihre Haut auch nur leicht. Dennoch blieb sie verzaubert stehen und starrte ihn überrascht an.
»Bis übermorgen!«, rief Ingmar ihr zu und winkte zum Abschied.
Als sie sich schließlich umwandte, entdeckte sie das Gesicht von Tjorven hinter dem Fenster. Wie lange er dort schon stand, wusste sie nicht, aber sie brauchte sich wohl nicht die Illusion zu machen, dass er den Kuss nicht gesehen hatte.
Sein Blick wirkte unendlich traurig, und obwohl Anneke sich eigentlich nichts vorzuwerfen hatte, fühlte sie sich plötzlich schlecht.
Als sie in die Schenke zurückkehrte, war der Junge verschwunden. Anneke seufzte und brachte Eimer und Bürste wieder zurück in die Küche. Das Schiffchen, dachte sie. Offenbar war es doch mehr als ein einfaches Geschenk gewesen.
*
Spät am Abend, als die Gäste gegangen waren und die Mägde die Küche aufräumten, gab es erneut Streit zwischen den Wirtsleuten. Diesmal schrien sich Inga und Magnus an, dass die Wände wackelten. Worum es ging, verstand Anneke nicht. Aber Gitta schien dieser Streit zu erfreuen, denn ein hämisches Lächeln zog über ihr Gesicht.
Hatte sie etwas damit zu tun?
Eigentlich hatte Anneke an diesem Abend an schönere Dinge denken wollen. An die Jungfernfahrt der Vasa und das Zusammensein mit Ingmar. Doch das plötzliche Kreischen der Hausherrin und Magnus' donnernder Bass rissen sie aus diesen Träumen fort. Und nun wurde sie auch auf Gitta wütend. Am liebsten hätte sie ihr an den Kopf geschleudert, dass es sich nicht gehörte, einer anderen Frau den Mann wegzunehmen.
Dann durchzuckte es sie, dass Hinrich wahrscheinlich dasselbe gesagt hätte. Mit ihrem Stiefbruder wollte sie auf gar keinen Fall einer Meinung sein!
Plötzlich polterte es von der Treppe her und es gab einen erstickten Aufschrei. Anneke stürmte aus der Küche und sah gerade noch, wie Tjorven ihr entgegenpurzelte. Oben an der Treppe stand Magnus mit wutschnaubendem Gesicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie den Jungen.
Tjorven stöhnte benommen. Unter seinem Auge bildete sich rasch ein großer Bluterguss, Blut sickerte aus einer Platzwunde an der Stirn.
»Nimm die Finger von dieser
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